Vor Jahrzehnten noch gehörten die Namen der neun griechischen Musen zum Kanon des bürgerlichen Bildungsideals. Heutzutage hält man von den einen wie von dem anderen nur wenig. Dafür kennen wir uns auf Gebieten aus, die vorzeiten noch nicht mal dem Namen nach bekannt waren. Das auch ist der Grund, weshalb es keine Muse des Internets und all der anderen digitalen Freuden gibt. Die klassischen Musen aber, die sind noch da. Kalliope ist die mit der schönen Stimme, die Muse der Dichtung, der Rhetorik, der Philosophie und der Wissenschaft. Mit der Wissenschaft hat sich in der Zwischenzeit viel geändert, der Wert des Schönen aber blieb weitestgehend erhalten.
Eigentlich verwunderlich, da wir doch heute sehr materiell eingestellt sind und so gut wie alles dem Nützlichkeitsprinzip op-fern. Das Schöne aber, das nützt nichts, es ist einfach nur schön. Genauer besehen, zeigt sich da ein Widersinn, denn alles Nützliche läuft ohnehin auf etwas Nicht-Materielles hinaus, auf etwas von der ideellen Art. Nützlich ist, was den Hunger, den Durst befriedet, den Schmerz stillt, was uns bedarfsweise wärmt oder kühlt und damit das Dasein angenehm macht, was interessant ist, uns und den anderen Freude bereitet, Ansehen verschafft, Bequemlichkeit oder Vergnügen liefert, was gesund erhält, Krankheiten heilt und damit von Unannehmlichkeiten und Sorgen befreit. Und nützlich ist, was Geld einbringt, damit wir den Hunger, den Durst … – die Liste beginnt von vorn. Auch die Freude am Schönen gehört mit zu diesen Endzwec-ken. Zum Glück gibt es wie zu allen Zeiten Leute, die für das Schöne sorgen: die Künstler und die, die das Schöne schätzen. Wie immer man es dreht, der alleralleroberste Endzweck läuft auf Huldigung des Limbischen Systems hinaus. Unter diesem Namen werden Hirnstrukturen zusammengefasst, die gürtelförmig (lat. limbus, der Gürtel) den Hirnstamm umfassen. Hier werden unsere Gefühle gebraut: Freude, Glück, Schmerz, Angst, Neid, Wut, Stolz, Scham, Liebe. Mehr als 70 verschiedene Gefühlsqualitäten wurden gezählt. Sie alle drängen nach Erhalt dessen, was uns Freude macht, uns Glück verheißt, oder eben das Gegenteil vermeiden hilft. Kalliope und ihren Schwestern droben auf dem Olymp sei’s gedankt, die Freude am Schönen gehört mit zu den limbischen Huldigungen.
Der Autor: Gerald Wolf, Studium der Biologie und Medizin, Universitätsprofessor. Bis zu seiner Emeritierung (2008) war er Direktor des Instituts für Medizinische Neurobiologie an der hiesigen Universität. Autor hunderter Publikationen, darunter drei (Wissenschafts)Romane. 14-tägig ist er in der Sendung „GeistReich“ (MDR, ab 11 Uhr) zu erleben.