Thomas Barthel ist mit
16 Jahren eine der größten Leichtathletik-Hoffnungen des SC Magdeburg.
Von Norman Seidler
Über 30 Grad Celsius zeigt das Thermometer. Der Himmel ist zugezogen und erweckt den Anschein, dass ein Gewitter im Anmarsch sei. Die Luft, sie steht. Das Atmen fällt schwer. Die rote Tartan-Bahn gibt nach und lädt mehr zum darauf Liegen, als zum darauf Laufen ein. Nahezu tropisch sind die Temperaturen an diesem Samstag. Die Bezirksmeisterschaften beim Schönebecker Sport-Club liegt in den letzten Zügen.
Thomas Barthel ist bereits im Tunnel. Denn es sind nur noch wenige Gedanken, die er jetzt hat. Die Erwärmung ist längst vollzogen. Der Laufanzug mit der Startnummer 142 sitzt, genau wie das knallgelbe Sprint-Schuhwerk mit den Spikes darunter. „Eigentlich ging alles ganz schnell“, erklärt der Blondschopf. „2010 nahm mich mein Bruder Markus mit zu Jugendmannschaft, die für Olympia trainierte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keinen Kontakt zu Leichtathletik-Wettbewerben – ich war ja auch gerade elf Jahre alt.“ Neuermark-Lübars bei Stendal – dort liegt die Heimat vom Sprinter. Beim Stendaler Leichtathletikverein 92 e.V. erfährt er die ersten professionellen Trainingseinheiten. Sportliche Grundzüge hat der freundliche 16-Jährige bereits durch Papa Heiko und Mama Kathrin in die Wiege gelegt bekommen, denn beide waren früher sehr sportlich, leben heute jedoch getrennt. „Mein Papa war früher Handballer und lief 100 und 200 Meter Sprints. Mit der Staffel ging es für ihn sogar zur Europameisterschaft. Mama musste nach einem Sturz über die Hürde ihre Laufzukunft beenden, auch sie war 100-Meter-Sprinterin.“
Angekommen am Startblock. Es ist bereits nach 16:15 Uhr, der geplanten Startzeit. Thomas Barthel ist fokussiert und geht in Position. Bahn fünf in der Kurve, die die 200 Meter eröffnet. „Die 200 Meter laufe ich nur, damit wir eine Zeit haben.“ 10,64 Sekunden sprintete der ruhige Schüler des Sportgymnasiums Magdeburg am 31. Mai in Jena auf 100 Meter. Auf dem Ernst-Abbe-Sportfeld fand ein sogenannter Normwettkampf statt, ein ausgeschriebener Wettkampf mit großen Konkurrenzfeld, bei dem bei jeder Disziplin eine Norm festgelegt ist. Thomas hatte Glück, denn mit 1,2 Meter pro Sekunde Rückenwind (2,0 Meter pro Sekunde sind maximal erlaubt) wurde der Lauf als gültig erklärt und die Norm von 10,75 Sekunden gerochen. Das Unterbieten der Norm, die Jagd nach einer besseren Zeit, das ist das Empfehlungsschreiben des Sprinters für die großen Wettbewerbe und die große Chance, nominiert zu werden.
„Thomas, wir brauchen einen 50-Meter-Sprinter“, hieß es damals in der 5. Klasse. Die ersten Wettkämpfe kamen in Frage. „Bei den Altmark-Meisterschaften bin ich die 50 Meter auf Parkettboden in der Halle gelaufen.“ Und er ergänzt: „Gewonnen habe ich natürlich auch.“ Landesmeisterschaften über 75 Meter meistert Barthel ebenfalls. Dann ein Ländervergleich zwischen Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. „Meine Leistung fiel auf und SCM-Trainer Ruddat sprach meine Eltern an.“ Doch noch klappte es nicht mit dem Sportclub. Was sich bald ändern sollte. Seit 2013 startete Thomas Barthel für den SCM, nachdem er auch auf den Nord- und Mitteldeutschen Meisterschaften Erfolge feierte. „2013 habe ich noch in Stendal trainiert, bin aber schon für den SCM gestartet.“ Heute ist Alltag eingekehrt. Zwischen Deutsch und Französisch geht es zum Training. Ein Zuspätkommen ist beim Lehrer schnell durch die eigenen Klassenkameraden entschuldigt. „Denn geduscht werden muss ja auch noch“, erklärt der Zehntklässler. Die Wahl der Naturwissenschaften fällt leicht: Chemie soll weg, dafür Biologie und Physik auf dem Weg zum Abitur vertieft werden – genau wie die Sprint-Zeiten verbessert.
Startschuss. Thomas kommt nicht optimal weg, wird aber von seinem Sprint-Kollegen auf der Nebenbahn gezogen, weil dieser ihn mit etwas Vorsprung anspornt. Leere im Kopf, das Blut schießt durch die Beine und Adrenalin wird freigesetzt. Schmerzverzerrte Mine, da der Körper nach wenigen Sekundenbruchteilen an der Leistungsgrenze arbeitet – Thomas ist in seinem Element. „Am Wochenende fahre ich gern nach Hause zu meiner Mama. Meine Eltern haben sich getrennt, aber mein Bruder und mein Papa wohnen in Magdeburg. Dadurch empfinde ich kein Heimweh.“ Um den Kopf frei zu bekommen nutzt Thomas die Zeit in der Heimat an der Elbe und fährt mit dem Rad. „Ich wollte schon immer laufen, aber im Kindergarten wurde es mir untersagt. In der Grundschule war ich oft unter den Besten. Damals wusste ich nicht, dass meine Eltern ehemalige Spitzensportler waren.“ Das Leben im Internat ist in Fleisch und Blut übergegangen. Hier in Magdeburg kann sich Thomas Barthel sportlich voll und ganz entfalten, wird von Profis betreut. Ein Blick aus dem Fenster und der Sprinter ist in der Schule angekommen. Daneben der Olympia-Stützpunkt. Springer, Werfer, Sprinter – jeder hat seine eigene Trainingsgruppe.
Kathrin Barthel schwärmt vom SCM: „Es ist schon Wahnsinn, was die Trainer und Physiotherapeuten aus meinem Sohn heraus kitzeln. Großes Lob an die Arbeit beim Sportclub.“ Derzeit trainiert ihr Sohn einmal täglich und das fünfmal die Woche, denn es ist Wettkampfphase. Nach dem Wettbewerb in Schönebeck geht es nach Schweinfurt zum nächsten Normwettkampf. Dort will Thomas wieder 100 Meter laufen und sein Empfehlungsschreiben auf den Tisch legen. Denn das große Ziel ist immer das Nächste: Die U18 Weltmeisterschaft in Cali (Kolumbien) findet vom 15. bis 19. Juli statt. Auf der anderen Seite der Welt will er auch mit der 4×100-Meter-Staffel an den Start gehen, seine zweitliebste Disziplin.
Zurück vor den Toren Magdeburgs: Thomas kitzelt das Letzte aus sich heraus und zieht auf der Gerade in Richtung Lichtschranke auf der Ziellinie. Für einen Moment wird er von der Kamera festgehalten. Er drückt sich so kraftvoll vom Boden weg, dass beide Beine kurzzeitig weit über der Laufbahn eingefroren stehen. Der Siegeswille steht in seinem Gesicht niedergeschrieben. 21,55 Sekunden. Erster im Ziel und die Norm geknackt. Thomas schießt der Schweiß ins Gesicht. Er liegt auf der Tartan-Bahn und ringt nach Luft. Zufriedenheit, alles lief nach Plan.