Ich versteh’ die Welt nicht mehr. Vielleicht war mein Weltverstehen früherer Jahren nur eine Illusion. Einfach, weil sich mein einst geglaubtes Wissen über den Lauf der Dinge aus verengten Kanälen speiste. Richtig und falsch, Gut und Böse ließen sich vor vielen Jahren ganz einfach ordnen. Nebeneinander existierten Idealisten, Materialisten und Ikonen verschiedener Religionen. In arm und reich, klug oder unwissend, empathisch, aktiv oder lethargisch konnten Menschen eingeordnet werden. Nationen gehörten politischen Systemen an oder waren zumindest auf einem bestimmbaren Weg.
Heute begegne ich einer explodierenden Informationsflut. Erkenntnisse über das, was Leben ist, über das Universum, über politische, kulturelle oder soziale Zusammenhänge überfallen meinen Verstand in einer Weise, dass er oft orientierungslos dahin treibt. Und täglich mehren sich die Verlautbarungen über den Lauf der Welt in einer Geschwindigkeit, die mich schwindelig macht. Die Menschheit hat sich vernetzt, und die Zahl der Nachrichten-, Mitteilungs- und sonstiger Informationserzeuger wächst weltweit sekündlich. Mit jedem geht die Verbreitung und das Sammeln der erzeugten Daten einher. Wer behält den Überblick? Zeigt die Entwicklung nicht auch, dass frühere Einsichten nur Anschein waren, dass die Welt zu verstehen, eher Einbildung war und Ergebnis begrenzten Wissens? Heute wird scheinbar nur sichtbar, was schon immer existierte: ein Chaos aus Welt- und Wirklichkeitsbildern. Und ich beginne zu zweifeln, ob Politiker oder ein Wissenschaftler auch nur im Ansatz in der Lage sind, diese Infosphäre – wie das weltumspannende Informationsnetz genannt wird – verlässlich nach Wahrheitsgehalt hin zu durchforsten.
Ich versteh’ die Welt nicht mehr, weil jedes als glaubhaft erkannte Argument in kürzester Frist widerlegt, durch andere Meinungen unterlaufen und mit weiteren Erklärungsdetails bis zur Unkenntlichkeit angereichert wird. Wie andere auch sehe ich eine wachsende Sehnsucht nach Orientierung und Wegen, in denen das eigene Leben wieder begreifbar wird. Mir scheint, dass diese Entwicklungen die Suche nach Gewissheit befeuern, dieses Verlangen jedoch im selben Moment in dem sich schneller drehenden Informationsstrudel ertrinkt. Ich weiß, dass Wahrheit eine Illusion ist und täglich wird mir vorgeführt, dass ich weiß, dass ich tatsächlich nichts weiß. Doch mehren sich in diesen Meinungs- und Infomations-Multiversen die Stimmen, die mir weismachen wollen, sie verstünden die Welt und die Myriaden an Interpretationen über all das, was geschieht. Solchen Propheten begegne ich mit wachsender Distanz. Kein Einzelner kann mir erklären, was mir unzählige andere nicht erklären können. In dem Maße, in dem das Begehren für eine friedliche Welt überall und von immer mehr Menschen und immer deutlicher gefordert wird, in dem verschärft sich auch das Konfliktpotenzial. Und alle wissen immer besser, was die anderen falsch machen.
Ich versteh’ die Welt nicht mehr. Ich verstehe nicht, warum wir Deutschen anderen Völkern erklären wollen, wie sie leben sollen. Wir tun dies mit einem Werte- und Regelsystem, das in vielen Hundert Jahren gewachsen ist, genauso wie die Werte und Traditionen dieser kritisierten Nationen gewachsen sind. Welcher Maßstab will sich da mit welchem messen? Mir scheint, als steige hierzulande die Zahl der Bürger, die sich deshalb für gute Menschen halten, weil sie eine besondere Empathie für das Leid in anderen Ländern hegen. Fortwährend überschlagen sich Nachrichten über die Katastrophen auf dem Planeten. Da brechen Vulkane aus, dort werden ganze Landstriche von Wirbelstürmen zerstört. Menschen ertrinken in überfluteten Gebieten, andere verhungern tausendfach. Kriegsschrecken und verabscheuungswürdige Gewalt wuchern über Bildschirme. Ist die Welt nun schrecklicher geworden oder deuten wir sie nur so, weil uns die Übel von überall her ins Wohnzimmer gespült werden? Und was ändert sich dadurch in unserem Tagesablauf? Der eine seufzt, eine andere entrüstet sich, wenig später läuft eine TV-Show und alles ist vergessen. Es wird am Grill gescherzt und über allem thront König Fußball.
Ich versteh’ die Welt nicht mehr, weil wir offensichtlich überall Hilfe leisten und versprechen, obwohl wir in vielen Fällen wissen, dass die Hilfe keine ist. Lebensmittelspenden für afrikanische Länder führen dazu, dass einheimische Landwirte ihre Produkte nicht mehr verkaufen können. Wir spenden mit bestem Gewissen, gute Taten zu vollbringen und leisten letztlich einen Bärendienst. Natürlich müssen wir in Not geratenen Menschen unsere Hand reichen, so wie sie nach dem 2. Weltkrieg uns gereicht worden ist. Selbstverständlich müssen wir Menschen, die aus größter Not entflohen sind, aufnehmen und ihnen ein Dach überm Kopf, Speis und Trank anbieten. Doch zugleich betten wir sie gleichsam in ein Sozialrechtsgefüge, das hierzulande historisch gewachsen ist und wundern uns, dass Menschen anderer Kulturen Schwierigkeiten haben dessen Regeldichte zu verstehen. Und das Heer der Schwachen und Hilfsbedürftigen erhält weiter unfreiwillig Zulauf. Das Klagelied über eine sich öffnende Schere zwischen arm und reich ist unüberhörbar. Doch was kümmert es den satten Verstand? Hauptsache der Nachbar mäht sonntags seinen Rasen nicht. Und es erstaunt viele, dass Mitmenschen, die Vielschichtigkeit des Geschehens nicht verstehen. Über Differenzen in politischen Ansichten zu reden, ist offenbar schwerer geworden, ebenso über tatsächlich oder vermeintlich bestehende Unterschiede der sozialen, intellektuellen oder biologische Art. Ist das damit zu erklären, weil die Welt immer weniger durchschaubar ist, weil sie sich zunehmend differenzierter und komplexer zeigt? Einseitiges Argumentieren stochert in undurchsichtigen Wahrheiten? Wie viel Andersartigkeit können wir überhaupt begreifen oder gar bewerten? Ist unser Verstand womöglich weit davon entfernt, mit ein paar tausend Begriffen, ein einigermaßen angemessenes Bild vom einzelnen Menschen zu entwerfen? Und dann gar noch von den heute lebenden mehr als sieben Milliarden menschlichen Individuen und all ihren jeweiligen Eigenheiten. Trotzdem wird uns immer wieder vermittelt, dass da einige wüssten, wie alles miteinander zusammenhängt.
Ich versteh’ die Welt nicht mehr, wie unbedarft wir unsere Privatsphäre Wirtschaftsunternehmen und staatlichen Organisationen anvertrauen. Dort kann man feststellen, wer wann wie viele Schritte von A nach B gelaufen ist, was man wo eingekauft hat, mit wem telefoniert und was dabei verabredet wurde. Techniker, Mathematiker und Informatiker schaffen Algorhitmen, anhand derer sich berechnen lässt, wie sich ein jeder von uns in welcher konkreten Situation verhalten würde. Die Lösung des Mysteriums, was jeder will, rückt scheinbar in greifbare Nähe. Und jeder beteiligt sich per Handy, oder Laptop daran, seine Daten zur Verfügung zu stellen. Und dann ist die Verwunderung groß, dass neue mahnende Zeigefinger hochgehalten werden, auf die jeder achten soll. Und wehe, man bewegt sich zu wenig, isst nicht abwechslungsreich und kalorienarm oder liest und hört möglicherweise falsche Botschaften. Der Zeigefinger, der schon jetzt überall mahnt, was man alles falsch macht, wird mit Anschwellen der Infosphäre noch mahnender werden. Jeder, der ein paar Punkte von den statistisch ermittelten Daten und den Normwerten abweicht, wird sich schlecht fühlen, weil seine Individualität nicht mit der Norm zusammenpasst. Indikatoren für schwere Krankheiten werden sich ergeben, doch der Betreffende zeigt keinerlei Symptomatik. Was tun? Sich einer Therapie unterziehen oder weiter so leben?
Ich versteh’ die Welt nicht mehr, wie gutgläubig und kritiklos Menschen Informationen aufnehmen und weitertragen. Sie fragen nicht, wer die Nachricht erzeugt und wer sie verbreitet und warum. Früher machte ein Gerücht nur im engeren Kreis die Runde, heute vermehren sich Gerüchte wie Epidemien, und das in Lichtgeschwindigkeit. Was erst einmal online ist, das wird schnell zur „Tatsache“. Und jeder kann mitmachen, fast jeder macht auch mit, Facebook, Twitter, youtube und Google aufzublasen. Die Barrieren, um Nachrichten, Musik, Fotos oder Filme zu verbreiten, fallen weiter. Manche wollen hinter verbreiteten Inhalten Verschwörer sehen, die Menschen einlullen und mit leichter Unterhaltung benebelt. Doch wir sind dies alle selbst, die an dem Wirbel der Undurchschaubarkeiten mitwirken. Was produzieren wir für eine inhaltslose Daten-Sintflut in Chats? Summa summarum nur einen Milliardenwert für Facebook. Es wird darunter deutlich, dass aus purer Lebenszeit im Internet wenige Dollar-Milliardäre werden. Und wir schenken denen unsere Zeit millionenfach freiwillig und glauben, mehr zu Wissen oder soziale Nähe zu erzeugen. Zeit ist eben Geld, aber nur für die anderen. Ich dachte stets, die Menschen würden durch den Fortschritt klüger, vernünftiger, besonnener und zivilisierter. Im Universum der sozialen Netzwerke, in eigener Regie veröffentlichter Dümmlichkeiten verliere ich den Glauben daran. Einfalt konnte sich früher schwer verbreiten. Heute konkurriert sie mit jedem und allem. Wissenschaftlich fundierte Argumente ertrinken im Ozean der Belanglosigkeiten und werden von den gigantischen Flutwellen „spaßiger“ Freizeittölpelei überspült.
Ich versteh’ die Welt nicht mehr, weil uns doch immerfort vermittelt wird, dass wir alle viel zu viel arbeiten und permanent überlastet sind, und dass trotzdem der TV-Konsum und die verbrachte Zeit im Internet von Jahr zu Jahr steigen. Wie kann es sein, dass das Bundesamt für Statistik 2010 eine durchschnittliche Jahresarbeitszeit für sozialversicherungspflichtige „fleißige“ Deutsche von 1.370 Stunden ermittelte, während 40 Jahre zuvor noch rund 2.000 Stunden gearbeitet wurde. 600 Stunden haben wir also abgeschafft und ins Wachstum der Freizeitindustrie investiert, anstatt in eigene Ideen zum Leben. Schaue ich auf die Lebensarbeitszeit nach Jahren, gehen wir Deutschen – laut derselben Behörde – nach 37 Arbeitsjahren in den Ruhestand. Das heißt bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren – entspricht rund 700.000 Stunden – liegt unsere Lebensarbeitsleistung bei weit unter 10 Prozent. Da wir zudem weniger Kinderbetreuung leisten, einfach weil weniger Kinder geboren werden, lautet die Frage: Was tun wir mit all dieser gewonnenen Zeit außerhalb der Schlafstunden? Ist der Anstieg an psychischen Beeinträchtigungen wie Depressionen oder Burnout-Syndromen etwa eine Folge dieser gewonnenen Freizeit und geht einher mit dem Mangel an Ideen, diese sinnvoll auszukleiden? Natürlich wird diese Statistik keinem Einzelnen gerecht. Einer kann durchaus intensiver als der andere arbeiten, dafür aber müssten dann, damit die Statistik stimmt, wieder andere noch weniger arbeiten.Trotzdem messen wir weiter und nutzen Lebenszeit, um die Welt sekündlich im Schönen und Schrecklichen zu besehen. Wir lassen sie zunehmend auf Bildschirmen flimmern und denken, wir würden die Welt verstehen. Ich versteh’ die Welt nicht mehr… Thomas Wischnewski