Die „bunte Stadt“ Magdeburg war vor dem 2. Weltkrieg eine Musterstadt des sozialen Wohnungs- und des reformpädagogischen Schulbaus. Die Stadt wuchs in Folge der Industrialisierung und durch Eingemeindungen innerhalb von nur 50 Jahren von 98.000 (1880) auf 308.000 Einwohner (1930).
In Rothensee, seit dem 1. April 1908 ein schönes Dorf in der großen Stadt, baute Stadtbaurat Johannes Göderitz 1925/26 direkt am August-Bebel-Damm in ländlichem Umfeld eine besondere Schule: „eine niedrige, eingeschossige, lang gestreckte, mehrfach gestaffelte Anlage mit Ziegelmauerwerk, großen, roten Satteldächern in der Form ländlicher Giebelhäuser“ (nach Sabine Ullrich, Magdeburger Schulen, hrsg. vom Stadtplanungsamt, S. 197). Der heute denkmalgeschützte Bau sieht wie ein Bekenntnis zu einer „Schule in der Natur“ aus. Die hinteren Klassenzimmer haben einen eigenen Zugang zum Garten und der Unterricht findet deshalb auch mal draußen statt.
Damals wie heute ist die Grundschule Rothensee eine weitestgehend barrierefreie Schule, vor allem eine Schule ohne Treppe. Allerdings gibt es verschiedene Ebenen, die mit einem Rollstuhl nicht zu meistern sind. Dennoch gewinnt man den Eindruck, hier wurde Inklusion früh vorgedacht, weil die Planer die Räume eben und die Gesamtanlage versetzt gestalteten, dadurch im Gebäude zur Begegnung und zum Verweilen, nicht zum Aneinandervorbeirennen einladen. Baulich ist man – mit Ausnahme der Toiletten – durchaus gerüstet für die Umsetzung der Leitidee einer inklusiven Schule, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention in Art. 24 fordert. Doch deren Anspruch ist sehr hoch. Er zielt ab auf das gemeinsame Lernen von Menschen mit und ohne Behinderung – von Anfang an! Das geht nur, wenn das Bildungssystem spezielle Mittel und Methoden bereitstellt, um Hindernisse zu überwinden und einzelne Lernende besonders zu fördern.
Nun ist formal die Stadt für die äußere Hülle, das Land für den Bildungsinhalt zuständig. Das Land Sachsen-Anhalt und die Stadt bekennen sich zur Inklusion im Bildungswesen, 2014 nahm die Zahl der Schüler in den neun Förderschulen der Stadt ebenso zu wie die Zahl der Schüler mit Förderbedarf im „Gemeinsamen Unterricht“ (GU). Derzeit besuchen in Magdeburg 448 Schüler eine Förderschule für Lernbehinderte, während 480 Schüler am gemeinsamen Unterricht teilnehmen. Die Grundschule Rothensee ist Bildungsort für 94 Kinder, darunter sind sieben Kinder mit unterschiedlichem sonderpädagogischem Förderbedarf im Gemeinsamen Unterricht. Auf den GU-Lehrer mit 25 Stunden für die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf kommt eine besondere Herausforderung zu: Denn in dieser Zeit sind Vor- und Nachbereitung sowie Elterngespräche und vieles andere mehr inbegriffen. Das ist in der „normalen“ Dienstzeit bzw. als 40-Stunden-Job nicht zu schaffen. Dies gilt auch für alle Klassenlehrer/innen, die auf die Herausforderungen der Inklusion kaum vorbereitet sind.
Inklusion braucht aber noch mehr, zunächst einmal eine stabile Bildungskooperation von Stadt und Land und eine hinreichende Finanzausstattung der Schulen. Im Gespräch mit Lehrkräften wird schnell deutlich, dass zu wenig Zeit und zu wenig Personal heute ein Grundmuster für die „innere“ Inklusion sind. Lehrkräfte versuchen immer, für die ihnen anvertrauten Kinder das Beste aus den Gegebenheiten zu machen. Doch das Land darf sich nicht auf die dauerhafte Selbstausbeutung der Pädagogen verlassen. Inklusive Bildung gelingt besonders dann, wenn mehr als eine Lehrkraft im Unterricht ist, wenn individuelle Förderpläne mit Leben erfüllt werden, wenn Zeit ist, ein Kind zu beobachten, ihm gezielt zu helfen, ggf. mit zusätzlichen Fördermaterialien oder mit einer ruhigen, ablenkungsfreien Atmosphäre bei Leistungskontrollen. Voraussetzung für Inklusion ist auch eine exzellente Weiterbildung und Zeit für den wechselseitigen Austausch der Lehrkräfte. Inklusion 2015 – reichlich Chancen, aber vor allem: eine große Baustelle in der „bunten Stadt“.
Heinz-Josef Sprengkamp