Die Erfindung der Kriminalität

Gerald Wolf 2Können Tiere eigentlich kriminell sein? Ein Löwenmann zum Beispiel, ist er kriminell, ein Kindesmörder, wenn er als neuer Rudel-Chef die Jungen tötet, um mit den Damen des Rudels eigene zu zeugen? Nein, er könne ja nichts dafür, hört man da sagen, es sei seine Natur. Wenn aber nicht von unseren tierischen Verwandten überkommen, dann muss unsere kriminelle Ader etwas Menschliches sein, etwas Humanes! Und tatsächlich, kriminell zu sein, setzt Rechtsbewusstsein voraus, nämlich im vollen Bewusstsein Unrecht tun – man klaut, betrügt, mordet.

Früher gab es dafür keine sozialen Hilfsprogramme, und die Strafen waren oft drakonisch. Was Unrecht ist, wurde durch Gesetzeswerke geschärft. Zum ersten Male kamen sie mit dem Codex Ur-Nammu auf, im Zweistromland vor etwa 4000 Jahren. Die Schärfe kodifizierten Rechts ließ man solche, die dagegen verstießen, durch die Schärfe des Schwertes oder des Hackebeils spüren. Waage und Schwert sind die Attribute Justitias, wie sie in anmutiger Gestalt so manche unserer Gerichtsgebäude ziert.
Die Scharia sorgt in entsprechenden Gesellschaften noch heute für diese Praxis: Geklaut, und gleich wird die Hand abgehackt. Natürlich nicht bei uns. Im Gegenteil, da wird die Polizei verdünnt, um den Dieben ihren Broterwerb nicht so schwer zu machen. Und die Kaufhäuser, die schlagen die Verluste ganz einfach dem Kaufpreis hinzu. Ein scharfes Schwert ohne metallene Klinge ist die Ächtung. Obwohl als Ahndungsprinzip uralt, nutzen unsere tierischen Verwandten dieses Erziehungsmittel nicht. Es wirkt nur unter Menschen, und zwar solchen, die sich persönlich kennen, und funktioniert bei der Ahndung von Unredlichkeiten, auch denen der kriminellen Art. Dagegen hilft oft nur noch Abtauchen in die Anonymität der großen Städte. Interessanterweise gibt es eine Form der Kriminalität, bei der es nicht um Vorteilsnahme geht: Diebstahl allein des Kicks wegen, Kleptomanie genannt. Auch Reiche tun so was. Wenn die Kleptomaninnen und Kleptomanen ihre Finger lang machen, rumort es in ihren Mandelkernen, einem relativ kleinen Gebiet tief drinnen in den Schläfenlappen unseres Gehirns. Die Mandelkerne sind für die Generierung von Angst und Furcht zuständig und haben u. a. Verbindungen zu den eng benachbarten Belohnungs- oder Glückszentren des Gehirns. Und genau das ist es, was diese Leute kriminell werden lässt, die Lust an der Angst, als kriminell entdeckt und bloßgestellt zu werden.