Aus der Zeit gefallen

schumannWas macht man, wenn man unverhofft Zeit geschenkt erhält? Nein, nicht einmal, eher regelmäßig, dreimal die Woche. Es gibt eine Bedingung: Es ist kein Ortswechsel möglich. Man kann sie totschlagen, die Zeit. Meist langweilt man sich dabei. Ein schönes Geschenk, wenn man nichts weiter damit anzufangen weiß, als es zu zerdeppern. Man kann sie nutzen. Nicht betriebsam, sondern um etwas zu tun, was man immer schon tun wollte, was man aber sich nicht zu tun getraute, weil ja noch so viel zu tun war. Das ist dann wie eine Belohnung. Man beschenkt sich selbst. Indem man beispielsweise ein Buch liest, das man lange schon lesen wollte. Indem man einen Brief schreibt, was man lange schon nicht mehr getan hatte, weil eine SMS viel schneller geht. Aber ein Brief, handgeschrieben, ist das nicht eine Kostbarkeit, die man einem lieben Menschen zueignen möchte? Ja, klingt irgendwie altmodisch. Langsam. Wie aus der Zeit gefallen.

Langsam. Das ist ein Wort, das man sich kaum mehr auszusprechen getraut. „Lancsam“ stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet, dass etwas lange dauert. Wer langsam ist, zeichnet sich dadurch aus, dass er mit wenig Geschwindigkeit etwas tut. Wer früher gelassen, also mit wenig Geschwindigkeit etwas tat, stand eher im Ruf, gründlich zu sein, seine Arbeit mit Bedacht und richtig zu machen. Wer heute als langsam gilt, steht eher im Ruf der Begriffsstutzigkeit, nicht flexibel zu sein, nicht optimierbar. Schlechte Zeiten für einen langsamen Leser. Dabei hieß es früher einmal: „Die Mühlen des Gesetzes mahlen langsam, aber gründlich.“ Oder, wie mir meine Frau Müller (auf die kommen wir noch mal irgendwann zurück, aber das wird noch dauern) mal triumphierend erklärte: „Gottes Mühlen mahlen langsam, aber trefflich fein.“ Da war natürlich einem Gegner etwas Unheiles zugestoßen. Es muss ihn wohl gründlich getroffen haben. Mir kam es bei der Wortwahl eher auf das herabgesetzte Tempo an, das mich in die Lage versetzt, nicht tagesaktuell sein zu müssen. Zeit also nicht als Stressfaktor, sondern eher als Geschenk zu erleben. Das geht nur, indem man der Bedächtigkeit wieder zu ihrem Recht verhilft.

Einer, der bedächtig erzählt, also überlegt, im ruhigen Fluss, gleichsam ein Meister des heilenden Wortes, war Siegfried Lenz. Diese freundliche Bedächtigkeit im Erzählfluss ließ wohl vergessen machen, dass nicht einmal Günter Grass einen so außerordentlich subversiven Roman wie „Das Heimatmuseum“, in dem nun tatsächlich nichts an der jungen Bundesrepublik Heiles blieb, hinterließ. Ein Roman ohne jede Gnade.

Nun, nach seinem Tode, erschien im selben Verlag, der ihn zunächst abgelehnt und nie verlegt hat, das Erstlingswerk von Siegfried Lenz, „Der Überläufer“. Möglicherweise erschien er nicht, weil in den fünfziger Jahren, in den Zeiten, als Bundeswehr und Nationale Volksarmee aufgebaut wurden, im Westen es schwer zu vermitteln gewesen wäre, dass ausgerechnet ein bzw. zwei deutsche Wehrmachtssoldaten zu den Russen überlaufen. Aber das ist Geschichte. Dass der Roman seine Schwächen hat, das Ende fast gewaltsam konstruiert erscheint, um zu einem Schluss zu kommen, sei dem „Anfänger“ Lenz verziehen. Meis-terlich wird er bereits da, wenn er sich auf die in den Masuren während des zweiten Weltkriegs spielenden Erzählteile konzentriert. Vielleicht muss man, wenn man den Autor Siegfried Lenz kennenlernen will, diesen Roman nicht gelesen haben. Aber hier einen Blick in die Werkstatt des jungen Lenz tun zu dürfen, ist schon ein sehr eigenes Vergnügen.

Nichtsdestotrotz empfiehlt sich die Lektüre, weil sie einem in diesen Zeiten vorführt, wenn man es nicht schon wüsste, wie verbrecherisch im Kriege mit Menschen umgegangen wird. Und wie teilnahmslos Menschen sich diesen Verbrechen hingeben können. Da sind wir bereits bei unserer Rolle im wieder aufflammenden Syrien-Krieg. Natürlich betrifft er uns. In unserer Ängstlichkeit, dass Andere uns etwas nehmen könnten. Das tun sie ja auch. Nein, nicht die Fremden. Unsere eigenen Eliten nehmen sich, was das Zeug hält. Auf welchen Konten liegen denn die ca. 6 Billionen Dollar, die der Irak-Krieg bis heute gekostet hat? Ja, und es ist deutsche Wertarbeit, die in der Welt viel Blut fordert. Nein, ich singe jetzt nicht den Gutmenschen-Blues. Keine Angst. Dafür ekelt mich die Stille im Land viel zu sehr an. Stille? Im Land? Ist er so langsam, dass er nicht mitgekriegt hat, dass es einen Protest gibt, gar einen „völkischen“? Doch. Und dieses Angst- und Unmutsgeflecht, das sich wie Metastasen durch das Land zieht? Doch. „Wenn einer bei uns die Vaterlandsflöte bläst, bekommen hundert Zuhörer gleich rote, durstige Kehlen und verlangen einen Nationalbewusstseinsschnaps! So ist es doch. Dann wird auf das Vaterland geprostet und geschworen, und man ist in der Falle.“ So lässt Siegfried Lenz den jungen Soldaten, den sie „das Milchbrötchen“ nennen, es sagen. Sie sitzen in der Falle des Krieges. Ähnlich, wie jene Politiker, die ihr Heil jetzt im Ausbau der Grenzagentur Frontex, die vom Namen her schon an ein Insektenvertilgungsmittel erinnern lässt, suchen. Wir allerdings mit. Dank der Massenbewegung von rechts. Es muss nicht wundern, dass es zum Himmel stinkt, wenn die Ohnmacht zur Notdurft wird.

Ich hatte gehofft, dass mich Lenz erster Roman, unmittelbar nach dem Krieg entstanden, in die Vergangenheit entführt. Aber nun hatte ich das Gefühl, der Roman sei aus der Zeit gefallen.