Bildungsförderungs- und Optimierungs-Reform-Reformen

Teacher motivating school student in front of the boardOh Gott, was hätte aus mir werden können, wäre ich in den Genuss der heutigen Bildungsförderung-sprogramme gekommen und in den von den Reformen zu deren Optimierung! Und all den Reformen dieser Reformen.

Wenn ich da an meine eigene Schule denke: bröckelnder Putz, übelriechende Aborte, drei Mal in der Woche Makkaroni mit Jagdwurst und einem Schwapp Tomatensoße, zur Abwechslung Pellkartoffeln mit Rührei. Und dann auch noch Frontalunterricht mit strengen Lehrern. Und mit Kopfnoten. Beim Schwatzen erwischt, ab in die Ecke und Gesicht zur Wand! Wegen des einen oder anderen Streichs musste ich während des Unterrichts raus auf den Flur, dorthin, wo die Lehrer vorbeikamen, entweder mit eisigem Blick oder mit einem hämischen „Nanu, Gerald?!“ Ganztags-Schulen gab es nicht, dafür nachmittags frei, meistens, aber auch sonnabends Unterricht. Ständig hatte sich unsereiner für die Familie nützlich zu machen: Wege zum Fleischer, zum Konsum, zum Schuhmacher, der Mutter bei der Wäsche helfen, Schuhe putzen. Ansonsten, was uns einfiel, und das ohne Anleitung, zum Beispiel Fußballspielen. Manche traf es härter: Sie mussten zum Klavierunterricht turnen oder die Beete im elterlichen Schrebergarten umgraben, Unkraut jäten. Keiner fuhr sie dort hin, denn das Auto, so es überhaupt eines gab, wurde nur sonntags aus der Garage geholt. Schlechte Zensuren oder eine der gefürchteten Mitteilungen an die Eltern brachten Kopfnüsse ein und nicht etwa den Beistand durch einen Rechtsanwalt. Dafür hatten wir ein Recht auf Schrammen. Waren sie am Knie auf der einen Seite verheilt, kamen auf der anderen neue hinzu. Ohne dass deswegen die Mütter in eine depressive Krise verfielen.
Was also, frage ich mich, wäre aus Geistern geworden, wie dem von Kant, von Goethe, von Beethoven, Bismark, Siemens oder Einstein und all jenen, die uns in strammer Haltung aus alten Fotos entgegenblicken, ja was, könnten sie die Schulen von heute besuchen? Und was aus mir? Lernen in Schulen ohne Kreide, ohne Schiefertafeln und verbeulten Wandkarten, stattdessen in Schulen mit Whiteboards und Beamer, mit Tablets auf dem Tisch und freundschaftlich gesinnten Lehrerinnen und Lehrern. Alles bei reduzierter Ausbildung in den Naturwissenschaften. Vielleicht sogar eine Schule ohne Zensuren, ohne Kopfrechnen. Oder noch optimierter: Schreiben nach Gehör, einfach so hinschreiben, wie es klingt, ohne den verdammten und zeitraubenden Drill durch die Rechtschreibung. Kommata mit der Streubüchse. – Jetzt, also jetzt bin mir nicht ganz sicher: Gab es inzwischen eine Reform dieser Reform? Nach den Formulierungen in den Chatrooms zu urteilen eher nicht.
Die Milliarden-Euro-Frage: Was nun ist der richtige Weg? Ganz einfach Fördern durch Fordern hieß es früher, und heißt es noch heute in den meisten Ländern der Welt. Auch in solchen mit dem höchsten Entwicklungstempo, in Fernost zum Beispiel. Jedoch muss das Einfachste nicht das Bestmögliche sein. Nachdenken erfordert die Frage, wie Schülern mit Lernschwierigkeiten der Weg zu bahnen ist, sofern sie nicht einfach als faul (unwillig, „motivationsgestört“) zu gelten haben. Allein mit Fordern ist es da nicht getan. Was aber ist mit den anderen? Werden sie in einem Zuge mit den Lernschwachen behandelt, fühlen sie sich zu Recht unterfordert, gegängelt, und ihre Problemlösungskompetenz entwickelt sich nicht so wie sie könnte. Die Menschheitsgeschichte ist bis zum heutigen Tage ein einziges Problemgeflecht, und der Erfolg der Menschheit wie auch der des Einzelnen hing und hängt wesentlich von der Fähigkeit ab, Probleme zu lösen. Motor war und ist jeweils das Ungemach, das das Problem verursacht. Tüfteln, Kreativität, Ideen sind gefragt, so lange, bis man den Ausweg gefunden hat und das Ungemach verschwindet. Welch beglückendes Gefühl beim Erfolg und welch Unverstand, durch „Optimierung“ von Lern- und Erfahrungsstrategien die Entwicklung von Spontaneität und Kreativität zu behindern! Das geht so weit, dass es Schülern freigestellt wird, Fächer, die ihnen Probleme bereiten, einfach abzuwählen. Kaum zu glauben, aber es ist seit langem schulische Praxis: Unsere Medizinstudenten haben an ihren Schulen entweder Biologie oder Chemie oder Physik abgewählt. Nicht, dass sie das wollten, nein, sie mussten! Wie nun das Bestmögliche finden? Ideen braucht man dazu, Tests und – bei positivem Resultat – die Kraft, das Neue, das Bessere, einzuführen und durchzuführen. An Ideen, so scheint es, mangelt es hierzulande nicht, auch nicht an der Kraft, Neues einzuführen. Wie aber steht es mit den Tests? Unsere Pädagogen beklagen, dass Innovationen in großem Stil eingeführt würden, ohne sie zuvor in puncto Effektivität, ja Sinnhaftigkeit, ausreichend geprüft zu haben. Wenn überhaupt. Oft müssten die Neuerungen ebenso schnell wieder zurückgenommen werden. Politische Erwägungen stünden nicht selten so weit im Vordergrund, dass die pädagogischen Gesichtspunkte gänzlich ins Hintertreffen gerieten. Und (hinter vorgehaltener Hand) so manche Kollegin und mancher Kollege würden als Bildungspolitiker umso entschiedener vorgehen, je dürftiger ihr Erfolg in der zuvor geübten schulischen Praxis gewesen wäre.
Zugegeben, Biologen und Mediziner haben es da leichter. Sie können die Effektivität neuer Verfahren an hunderten, ja an tausenden Versuchstieren überprüfen, indem sie nur einen einzigen Faktor variieren. Die Tiere sind genetisch identisch, gleichsam eineiige Zwillinge, und werden unter haargenau gleichen Bedingungen gehalten. Entsprechend sauber ist die Statistik der Ergebnisse. Keine einzige Fachzeitschrift würde Ergebnisse veröffentlichen, ohne dass ein solcher Aufwand betrieben worden ist. Problematischer wird es allerdings, wenn es um Patienten geht. Da müssen multizentrische und nach Möglichkeit international geführte Studien ran – eine unabdingbare Voraussetzung für die Einführung eines neuen Medikamentes. Die Studien kosten ob ihres Umfangs hunderte Millionen Euro. Hat man je von derartigen auch nur einigermaßen angemessenen Studien an unseren Schulen gehört, von Vergleichen zwischen neu und althergebracht und entsprechenden Statistiken? Zum Beispiel um zu prüfen, inwieweit die Einbeziehung (Inklusion) von Schülern mit besonderem Förderbedarf in den regulären Unterricht eine wirklich gute, nämlich eine in jeder Hinsicht gute Idee ist. Kritiker behaupten, dass die Inklusion zum Schaden der Förderschüler wäre und bei den übrigen Kindern zu einer Absenkung des Leistungsniveaus führe. Auch zur Abwanderung von Schülern in die Privatschulen, insbesondere von solchen aus der Mittel- und Oberschicht, eingerechnet die Kinder und Enkel von Politikern.
Ohne Frage, die Bedingungen im Bildungswesen mögen in mancher Hinsicht ungleich schwieriger sein als die in der Biologie, Medizin oder in der Psychologie. Wenn der Veränderungsdruck hoch ist, muss rasch und ohne große Umschweife reagiert werden. Zum Beispiel bei einem Wechsel des politischen Systems, wie wir ihn in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg hatten. Aber ist in der Gegenwart der Veränderungsdruck derart, dass „ohne große Umschweife“ reagiert werden muss? Anders gefragt: Gibt es Gesichtspunkte, die speziell in der Pädagogik die Regeln der Wissenschaftlichkeit außer Kraft zu setzen?
Prof. Dr. Gerald Wolf