Mit einem ebenso überraschenden wie überragenden vierten Platz hat der von einer Euphorie-Welle getragene Aufsteiger 1. FC Magdeburg seine erste Saison in der dritten Liga abgeschlossen. Hinzu kam der Einzug in den DFB-Pokal. Im Interview mit Magdeburg Kompakt sagt Cheftrainer Jens Härtel (46), wie er das erste Jahr der Blau-Weißen im Profifußball gesehen und erlebt hat.
Wenn Sie auf die letzten gut zehn Monate zurückblicken: Was würden Sie heute anders angehen, und was würden Sie genau noch einmal so machen?
Jens Härtel: Keine leichte Frage. Wenn ich sie denn beantworten soll, dann vielleicht so: Grundsätzlich würde ich das Meiste genau noch einmal so machen. Weil ich denke, wir haben im Verein in unserem ersten Drittligajahr viele gute und richtige Entscheidungen getroffen.
Welche zum Beispiel?
Wir haben auf einen Kader gesetzt, in dem junge und hungrige Akteure stehen, viele von ihnen kommen aus der Regionalliga. Und wir bewusst auf gestandene Leute mit Dritt- oder sogar Zweitligaerfahrung verzichtet haben. Da durch die Relegationsspiele erst zu einem späten Zeitpunkt feststand, wo wir in der neuen Saison spielen, haben wir auf Aktive geschaut, die sich mit dem Verein und Magdeburg identifizieren, die stolz sind, hier auflaufen zu dürfen. Wie man am Ende das Ergebnis sieht, haben wir nicht falsch gelegen.
Also Charakter vor Klasse?
Natürlich ist beides zusammen immer gut. Aber wer von den gestandenen guten Spielern hatte Magdeburg denn vor der Saison auf dem Schirm? Also haben wir uns gesagt: charakterliche Qualitäten schlagen individuellen Stärken. Auch das erwies sich am Ende als richtig.
Nun zur anderen Seite: Was würden Sie eventuell nicht wieder so machen?
Mich beschäftigt noch heute, dass ich vor der Niederlage in Cottbus, nicht anders reagiert habe. Dort hat uns eine schwache erste Viertelstunde eine Niederlage beschert, deren Auswirkungen wir noch eine ganze Weile mitgeschleppt haben. Auch hätte ich auf meine innere Stimme hören und die Grundordnung ändern sollen.
Glauben Sie, in dieser Saison einmal das wahre Gesicht Ihres Teams gesehen zu haben?
Tatsächlich schwer zu beantworten. Die Jungs überraschen mich immer wieder. Aber ich denke, ich habe das wahre Gesicht dann gesehen, wenn der Druck auf uns besonders groß war – dann haben sie überzeugt. Das macht mich schon stolz. Wie sie im März aus der schwierigen Situation wieder rausgekommen sind, da gehört einiges dazu. Wir mögen nicht die besten Fußballer sein, aber der Wille der Mannschaft, am Limit spielen zu wollen, ist schon beeindruckend.
Bleiben wir kurz beim Stichwort Spieler. Wer hat Sie denn am meisten überrascht?
Wie gesagt, prinzipiell sind wir ein Team, das von seiner mannschaftlichen Geschlossenheit lebt und nicht von überragenden Einzelkönnern. Aber ein Nils Butzen hat auch in der dritten Liga einen weiteren großen Schritt nach vorn gemacht. Er ist jetzt nicht nur Stammspieler, sondern eine feste Größe im Team überhaupt. Auch ein Michel Niemeyer und ein Christopher Handke haben gezeigt, wozu sie in der Lage sind. Und dass ein Christian Beck in der höheren Liga 19 Tore macht, ist nicht von vornherein normal. Er ist, selbst wenn er noch Luft nach oben hat, goldwichtig für uns.
Auch hier die Gegenfrage: Hat Sie jemand enttäuscht?
So würde ich das nicht sagen. Zunächst sollte man allen danken, die sich für den FCM in dieser Saison eingesetzt haben. Natürlich tut es einem als Trainer weh, wenn man sich von jemand trennen muss, weil man ihm nicht mehr genügend Einsatzchancen zusichern kann. So ein Fall ist Burak Altiparmak, er hat nicht enttäuscht, aber es war einfach kein Platz mehr für ihn. Hoher Konkurrenzdruck lastet auf alle Spieler, das gilt auch für Lukas Novy, der aufgrund seiner langwierigen Verletzung kein einziges Spiel bestreiten konnte.
Acht Spieler sind verabschiedet worden, wie sieht es mit den Nachfolgern aus? Wieder nur junge, unverbrauchte Gesichter?
Nicht unbedingt. Wir wollen auf jeden Fall die Qualität im Kader weiter erhöhen, den nächsten Schritt gehen. Wir suchen, auch als Nachfolger für Lars Fuchs, eine Art Balance-Spieler, angesiedelt irgendwo zwischen einem „Sechser“ und einem „Zehner“. Das kann durchaus ein erfahrener Mann sein. Denn inzwischen hat sich der FCM einen Namen gemacht, so dass wir für Spieler interessant geworden sind, die uns im vergangenen Jahr vielleicht noch die kalte Schulter gezeigt hätten. Insofern ist einiges einfacher geworden.
Und Sie befürchten nicht, dass die Erfolge des FCM in anderen Vereinen Sehnsüchte nach Magdeburger Akteuren geweckt haben?
Eigentlich weniger. Zumal wir ja nicht, wie gesagt, über die herausragenden Einzelspieler verfügen. Und ein Christian Beck hat seinen Vertrag bei uns ja erst verlängert.
Sie starten Ende Juni mit einem um sieben neue Akteure ergänzten Kader als Vorjahres-Vierter in die Spielzeit 2016/17. Da müsste man den FCM doch zum erweiterten Favoritenkreis für den Aufstieg ansehen.
Um Himmelswillen, nein. Da bleiben wir mal ganz schön auf dem Boden. Bevor wir die zum Klassenerhalt nötigen 45 Punkte nicht auf dem Konto haben, reden wir über nichts anderes. Nur zur Erinnerung: Im letzten Jahr waren die Stuttgarter Kickers Vierter, jetzt sind sie abgestiegen. So viel zu derartigen Rechnereien. Wir stellen uns darauf ein, dass das zweite Jahr in der Regel immer schwieriger wird. In dieser Saison hatten uns viele nicht auf der Rechnung, hinzu kam eine gute Startphase. Wir müssen uns nunmehr zumindest darauf einstellen, dass es bei ausbleibenden Erfolgen im Umfeld ein wenig unruhiger werden kann.
Dresden und Aue, die überragenden Teams der zurückliegenden Saison, haben sich nach oben abgesetzt. Wie sehen Sie die Situation in der neuen dritten Liga?
Da kann ich mich nur wiederholen: Diese Liga ist derart eng, da ist fast alles möglich. Neben den beiden Absteigern (Paderborn und FSV Frankfurt, d. Red.) und dem Verlierer der Relegation (Würzburg oder Duisburg, d. Red.) zählen für mich Kiel, Münster und Chemnitz zu den Favoriten. Der FCM gehört nicht dazu, das sollten alle wissen. Andererseits sage ich ebenso: Wenn etwas gehen sollte, wenn man in einen Lauf kommt, dann ist hier und da auch für uns etwas möglich. Dann werden wir die Chance versuchen zu nutzen.
Mit RB Leipzig spielt erstmals seit sieben Jahren wieder ein Ostklub in der ersten Liga. Sie selbst waren vor Ihrer FCM-Zeit ein Jahr dort Nachwuchstrainer. Was bedeutet dieser Aufstieg für den Ostfußball, und können Sie für Ihre jetzige Arbeit da etwas abgucken?
Vorweg: Jeder Verein hat sein eigenes Gesicht, ist anders aufgestellt, hat eine andere Geschichte. Ebenso klar ist, dass RB aufgrund seiner enormen finanziellen Möglichkeiten kein ganz normaler Fußballklub im Osten ist. Aber die Leipziger Zuschauer akzeptieren es offensichtlich so wie es ist, freuen sich über die Bundesliga. Aber abgucken, da kann man da nicht allzu viel. Mit einer kleinen Ausnahme vielleicht: Da in Leipzig viel und gut ausgebildet wird und nicht alle dort einen Vertrag bekommen werden, muss man schauen, ob nicht der eine oder andere zu uns passt. Dennoch bleibe ich dabei, wir müssen unseren eigenen Weg weitergehen.
Sie sehen das, was da in Leipzig passiert, also eher ein wenig kritisch?
Damit wir uns nicht falsch verstehen, wir sind nicht neidisch. Der Verein macht sicherlich einen guten Job. Und der Aufstieg ist für das Fußball-Selbstbewusstsein im Osten schon gut. Aber ich denke, die Freude wäre bei den meisten noch größer, wenn zum Beispiel ein Traditionsklub wie Dynamo Dresden oder Hansa Rostock einen solchen Schritt geschafft hätte.
Nun haben Sie bisher bei Vereinen gearbeitet, denen die Zuschauer wahrlich nicht die Türen eingelaufen sind. Wie geht man als Trainer damit um, plötzlich selbst im Mittelpunkt zu stehen – zumal Ihnen nicht der Ruf vorauseilt, das Bad in der Menge unbedingt zu suchen?
Es stimmt, ich suche nicht jedes Mikrofon oder jede Kamera. Manche Trainer stehen nach einem Sieg auf dem Zaun, andere eben nicht. Dennoch gehören das Auftreten in der Öffentlichkeit und der Kontakt zu den Medien zum Job einfach dazu. Das akzeptiere ich auch und versuche, den Wünschen nachzukommen. Andererseits erwarte ich ebenso, dass die Fans einem hin und wieder ein wenig Privatleben lassen, man nicht immer und überall in jede Handy-Kamera lächeln muss.
Wenn Sie eine Prozentskala von 0 bis 100 vor sich hätten, wo sehen Sie den FCM da derzeit?
Oh, diese Frage kann ich kaum beantworten. Da gehören so viele Faktoren dazu, einige können wir als Mannschaft gar nicht einschätzen oder beeinflussen, wie zum Beispiel die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Wir sind also auch hier klug beraten, wenn wir die Balance wahren. Nehme ich jedoch allein die Stimmung, dann sind wir wohl an den 100 Prozent dran. Ich war neulich einmal zu einem Bundesliga-Spiel in Wolfsburg, allein von der Lautstärke her kein Vergleich zu Magdeburg. Das ist hier eindeutig mehr Bundesliga-Atmosphäre.
Fragen: Rudi Bartlitz
Daten, Fakten und Einschätzungen zu den Spielern dews 1. FC Magdeburg