In der hiesigen Tageszeitung erschien unlängst ein Artikel, amüsant betitelt mit „Das Ende der Kreidezeit naht“. Er kommentiert, dass die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka in ihrer neuen Digitalisierungsinitiative den 40.000 Schulen in Deutschland in den nächsten fünf Jahren fünf Milliarden Euro zur Verfügung stellen will, um eine Breitbandanbindung, WLAN und Laptops bzw. Tablets für die Schüler anzuschaffen. Die „Kreide“ verschwindet also aus den Klassenzimmern. Sachsen-Anhalts Bildungsminister Marco Tullner begrüßt das wie selbstverständlich, ist aber wenigstens so vorsichtig, dass er auch inhaltliche und pädagogische Aspekte anmahnt. Daneben gibt es natürlich auch noch den Sanierungsstau an den Schulen, der laut DGB auf ca. 34 Milliarden Euro geschätzt wird. Die Situation ist komplex und einfache Reaktionen verbieten sich. Wer aber nun glaubt, dass er über die Digitalisierung die Bildungsmisere in unserem Land beseitigen kann, hat sicherlich zu blauäugige Vorstellungen. Die Sache ist ernster. Als in den Jahren ab 1990 sogenannte CAD-Systeme (Computer aided Design) zur Unterstützung der Entwurfs- und Konstruktionsarbeiten in der Industrie und natürlich auch an den Hochschulen eingeführt wurden, entwickelte sich eine Diskussion darüber, ob durch die Nutzung derartiger Technologien nicht Kreativität und auch Qualität leiden könnten. Die bisherige Arbeit in Entwicklungseinrichtungen, mit der Hand Skizzen anzufertigen, über die Skizzen zu diskutieren, erst danach am Reißbrett einen Entwurf und dann eine detaillierte Konstruktion zu erstellen, änderte sich grundsätzlich. Die Skizze verschwand, ein Entwurf wurde nicht mehr notwendig, die CAD-Technik erlaubte es, sofort mit der Detaillierung zu beginnen. Wunderbar, werden einige sagen, Zeit gespart. Doch weit gefehlt. Der Weg über Idee – Skizze – Entwurf – Zeichnung hatte auch Vorteile. Hier war Gelegenheit, Kreativität und Innovation einzubringen, über Skizzen und Variantenüberlegungen Optimierungen vorzunehmen und vor allem, Fehler frühzeitig zu erkennen und nicht erst bei der Funktionsmusterprüfung erschrocken aufzuwachen. Fehlerfrüherkennung spart vor allem Zeit und Geld.
Es zeigte sich aber noch ein weiteres, dieser veränderten Technologie innewohnendes Problem. Die Benutzung der Maus und der Computertastatur für die Erstellung graphischer Darstellungen entspricht nicht dem Gestaltungsvermögen im Denkprozess. Im Geist ist bereits die Vision der Skizze oder Zeichnung erstellt. Wird z. B. mit der rechten Hand eine Skizze angefertigt, so sagt uns jeder Hirnforscher, dass dabei die linke Gehirnhälfte aktiviert wird, die bekannterweise für die Kreativität des Menschen zuständig ist. Die Benutzung der Computer-tastatur ist diesem Prozess also hinderlich, Ideenbildung, Kreativität und Spontanität werden erschwert. Eine Reihe von Studien bestätigten dann auch diese Vermutung. Lassen sie mich kurz ein Beispiel erzählen, das die Bedeutung von Skizzen illustriert. Ich hatte einmal die Aufgabe, für ein Entwicklungsprojekt eines deutschen Unternehmens in sehr kurzer Zeit eine Präsentation anzufertigen, um das Projekt einer japanischen Firma vorzustellen. Da die Zeit überhaupt nicht ausreichte, wurden statt wunderschöner, mit dem CAD gezeichneter bunter Bilder, meine Handskizzen in die Power-Point-Präsentation eingescannt. Die Sorgen waren groß, wie die Japaner das nun aufnehmen würden. Aber es geschah etwas Unerwartetes. Als die Skizzen auf der Leinwand erschienen sprangen sie wie elektrisiert auf und zückten ihre Fotoapparate. Kurzum, die deutsche Firma erhielt den Auftrag. Skizzen haftet etwas ursprünglich Wahres, etwas vollkommen Authentisches an. Das „gestylte“ CAD-Bild kann das nicht liefern.
Und damit zurück zum Thema und zur Artikelüberschrift. Endet nun wirklich die Kreidezeit? Ich will es nicht hoffen. Mal abgesehen vom möglichen Verlust der Schreibfähigkeit bei den Schülern und damit der Feinmotorik der Hand bei der Gestaltung von Schrift oder Bild würde etwas noch Wertvolleres verlorengehen, die Individualität nämlich. Natürlich muss nicht jeder Schüler ein Kalligraph werden. Das Fach „Schönschreiben“ gibt es schon lange nicht mehr. Aber es sollte doch wohl die Schreibfähigkeit, ein Ergebnis jahrtausendlanger Prozesse unserer sozialen Entwicklung als Mensch, nicht verlorengehen. Wir reden heute ständig über Diversität, also ein Konzept der Soziologie für die Unterscheidung und Anerkennung von Gruppen- und individuellen Merkmalen. Beim Lernen würden diese Merkmale dann garantiert nicht mehr ausgebildet, weil die Benutzung eines Computers über die Betätigung einer Maus oder der Tastatur Individualität gar nicht zulässt. Der Trend zur digitalisierfähigen Antwort (der Schüler oder Student macht nur noch ein Kreuzchen an der richtigen Stelle in der Antwortliste im Computer und erleichtert damit dem Lehrer die Auswertung) zerstört den letzten Rest an Anforderungen zur Artikulierung von Sachverhalten.
Während der Zwang zur Digitalisierung in der Industrie fraglos fortschreiten wird, ist doch schon mal zu fragen, ob eine Adaption des Menschen an diese Entwicklung nur durchzuführen ist, wenn seine analogen Fähigkeiten der Sprache und Schrift in gleichem Maße zurückgefahren werden. Die Digitalisierung aller Lebensäußerungen des Menschen, seiner Kommunikation oder auch seiner physiologischen Parameter, wie das die Wareable-Industrie (wearable technology mit Smartwatches oder fitness trac-kers) betreibt, ist sicher keine Lösung, denn Essen und Trinken, Sorgen, Freude, Trauer, Liebeskummer usw. bleiben weiter Dinge, die das Menschsein überhaupt ausmachen. Vorsicht also bei der Digitalisierung.
Wenn unsere technikaffinen Zeitgenossen den ganzen Tag am Smartphone „daddeln“ wollen, dann sollen sie es tun. Seriöse Pädagogik hat damit nichts zu tun und sollte Kreide und Tafel im Klassenzimmer in den Prozess der Wissensvermittlung einbeziehen. Natürlich kann man auch auf einer digitalisierten Tafel mit einem entsprechenden Stift schreiben. Wirkliche Kreide muss es dann also tatsächlich nicht mehr sein.
Prof. Dr.-Ing. Viktor Otte, Mitglied des Professorenkollegiums „emeritio“, studierte und promovierte an der jetzigen Technischen Universität Ilmenau, arbeitete über zehn Jahre in der Forschung bei Carl Zeiss in Jena, war als Dozent an der Universität Magdeburg tätig und arbeitete ab 1991 an der Universität Wuppertal, Fakultät Maschinenbau.