Der Psychologe und Kriminologe Adrian Raine will einen biologischen Marker für „das Böse“ gefunden haben: ein niedriger Ruhepuls.
Bestürzung stellt sich ein und Neugier wird wach, wenn wir von einer begangenen Straftat erfahren. Wie kam es dazu? War es nicht zu verhindern? Welche Gründe lassen Menschen straffällig werden?
Liegt es am Charakter? Trägt das Elternhaus eine Mitschuld? Wurde etwas bei der Erziehung versäumt? Welche möglichen Einflüsse hat das soziale Umfeld? Existieren etwa biologische Gründe? Kriminelles, gewalttätiges und antisoziales Verhalten stellt die Menschheit noch immer vor Rätsel. Seit Jahrtausenden suchen Philosophen, Kriminologen und Sozialwissenschaftler die Ursachen für das Begehen von Straftaten.
Das Böse als Gegenteil vom Guten muss eine Wurzel in der menschlichen Natur haben. Darüber streiten sich die Gelehrten seit man moralisch falsches Handeln deutet. Doch zunächst musste die Moral entstehen und die daraus abgeleiteten Normen, damit dagegen jemand verstoßen bzw. eine Tat als verwerflich definiert werden konnte. Die Entstehung aller Kultur ist gleichsam die Initiierung ihrer Schattenseiten. In der christlichen Religion wird Luzifer – eigentlich der „Morgenstern“ – bald zum Teufel gewandelt. Dem Menschen wohne eben nicht nur das Gute, sondern auch das Böse inne. Der italienische Arzt, Psychiater und Gerichtsmediziner Cesare Lombroso (1835 – 1909) versuchte, anhand äußerer Körpermerkmale eine Typisierung von Verbrechern vorzunehmen. Doch jeder weiß, dass schon ganz nette, sympathische Nachbarn als schreckliche Mörder entlarvt wurden. Es scheint also kein wirkliches Indiz in der tieferen Natur des Menschen zu geben, das auf einen negativen Verhaltenscode im Bauplan unseres Wesens hinweist. Natürlich wissen wir heute von genetischen Defekten, die sehr wahrscheinlich gewalttätiges Handeln hervorrufen, aber warum sich jemand aus sexuellem Trieb an Kindern vergreift, kann auch die Genetik nicht erklären. Anomalien im Gehirn gelten als eine von vielen Ursachen für gewalttätiges und kriminelles Verhalten.
Adrian Raine, Professor für Kriminologie, Psychiatrie und Psychologie an der Universität von Pennsylvania und führender Forscher auf dem Gebiet der biologischen Grundlagen der Gewalt, will jedoch einen Hinweis gefunden haben, warum Menschen gegen Normen verstoßen oder gar zu Mördern werden. Seiner Meinung nach birgt das autonome Nervensystem einen wichtigen Risikofaktor für Regelverstöße aller Art: einen langsamen Puls. „In meinem ersten Forschungsprojekt als Doktorand an der University of York in England stellte ich fest, dass ein niedriger Ruhepuls charakteristisch für antisoziale Schuljungen war.
Zum selben Ergebnis kam ich später bei einer Studie an der University of Nottingham“, schreibt Raine in seinem Buch „Als Mörder geboren“ (das Buch erschien im Januar bei Klett-Cotta).
Sein Fazit: Menschen, die zu antisozialem Verhalten neigen oder häufiger gegen Regeln verstoßen, haben im Schnitt einen langsameren Puls. Während andere Biomarker oft bei mehreren psychischen Erkrankungen zu beobachten sind, ist die niedrige Herzrate vergleichsweise spezifisch für antisoziales Verhalten. Im langsamen Puls könnte sich Furchtlosigkeit widerspiegeln. Denkbar wäre auch, dass die Betreffenden stärkere Stimulation brauchen, um ihr Erregungsniveau zu regulieren. „Möglicherweise holen sich Kinder mit chronisch niedrigem Erregungsniveau einen Erregungsschub, wenn sie jemanden verprügeln, Ladendiebstähle begehen, sich einer Straßengang anschließen oder Drogen nehmen. Die traurige Realität ist, dass Regelverletzungen den meisten Kindern und Jugendlichen Spaß machen“, so der Psychologe.
Männer haben generell eine niedrigere Herzfrequenz als Frauen. Daraus wäre ableitbar, warum die meisten Straftäter Männer sind. In Zwillingsstudien hätte sich laut Raine gezeigt, dass der Ruhepuls in bemerkenswertem Maß erblich ist. Außerdem stellt man fest, dass Kinder krimineller Eltern im Schnitt einen niedrigen Ruhepuls haben. Berücksichtige man, dass es eine signifikante Erblichkeit für aggressives Verhalten von Kindern und antisoziales Verhalten von Erwachsenen gibt und dass Eltern antisoziales Verhalten an ihre Kinder weitergeben, könnte die niedrige Herzfrequenz einer der Erbmechanismen sein, die diese Übertragung von einer Generation auf die nächste erklären. Wenn sich dieser Zusammenhang zwischen Herzfrequenz und Verhalten herstellen lässt – Raines Untersuchung liegt eine große Meta-
analyse mit Daten von insgesamt 5.868 Kindern und Jugendlichen zugrunde – könnte antisoziales Verhalten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden. Welches Schicksal droht künftigen Generationen, wenn ihnen quasi von Geburt an eine negative Sozialprognose bescheinigt werden würde? Und die niederschmetterndste Erkenntnis aus allem ist: Die Quelle des Bösen ist das Herz – das wohl poetischste Symbol der Liebe.
Thomas Wischnewski