Leidenschaften, die nicht bloß
Leiden schaffen
Von Gerald Wolf
Denken Sie an einen Menschen, der sich stets und ständig im Griff hat, alles hochvernünftig abwägt, nie die Fassung verliert, sich für nichts begeistern kann, alles mit Gleichmut hinnimmt, egal ob sein Haus brennt oder sein Herz in Flammen … – nein, das ist es ja eben, sein Herz, es entflammt nie, für nichts lässt es sich entzünden.
Stoiker nennt man solche Typen, ein Begriff, der auf Philosophen des klassischen Griechenlands zurückgeht. Ihnen zufolge ist der Mensch in eine umfassende kosmische Gesetzlichkeit eingeordnet. Diese als gegeben anzuerkennen und sich in den Lauf der Ereignisse leidenschaftslos einzufügen, galt den Stoikern als Ideal.
Meines ist es nicht, und Ihres vielleicht auch nicht. Sich mal richtig aufzuregen, über eine Ungerechtigkeit empört zu sein, das entschlackt, reinigt die Seele, schützt vermutlich vor Herzinfarkt. Leidenschaftlich zu sein, klingt sympathisch, solange man nicht zur Zielscheibe wird. Leidenschaft, da merkt man, hier schlägt ein Herz in der Brust. Wie packend, wenn es für jemanden schlägt oder für etwas. Keinen Roman, kein Drama und kaum einen Film gibt es, in denen nicht auf dieses große Gefühl abgezielt wird. Und immer dann der Konflikt. Die Dramaturgie verlangt das so. Vom Genre hängt es ab, ob sich die Handlung zum Happy End hin oder zur Tragödie entwickelt. Gleichviel, ist die Zuneigung auch noch so heftig entbrannt, die Eigenliebe legt ihr Scheit immer mit ans Feuer: Ich bin es, der in seiner Leidenschaft erhört werden will, ich, ich, ich! Auch dann, wenn es dem Anderen gar nicht ins Zeug passt oder, weit ärger noch, einem Widersacher das Messer in der Hose aufklappt. Im Leben gibt es so was auch, selbstverständlich, gewöhnlich aber geht es dann einfach weiter, und langsam verliert das Ganze an Brisanz.
Edler ist es, wenn jemand in völliger Selbstlosigkeit für etwas brennt. Zum Beispiel für Hilfsbedürftige. Anrührend auch, wenn sich jemand mit Enthusiasmus der Naturbetrachtung hingibt, passionierter Käfersammler ist oder Moose und Flechten fotografiert, für die sich sonst „kein Schwein interessiert“. Oder in verstaubten Kirchenbüchern leidenschaftlich der Geschichte seiner Ahnen nachgeht, für den Pop-Sänger Harry Styles oder die Pianistin Yuja Wang schwärmt, die Erde umrundet, um sich zum x-ten Male durch eine Sonnenfinsternis beglücken zu lassen, oder jemand, der immer aufs Neue mit der Wünschelrute loszieht, um zu beweisen, dass da doch was dran ist, überhaupt an Psi-Phänomenen. „Durch die Leidenschaften lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß“, meinte der französische Schriftsteller Nicolas Chamfort. Er war einer von denen, die für die Französische Revolution glühten. Selbstlos tat er das. Beispiele von Politikern aus der Jetztzeit, also solche, die leidenschaftlich und zugleich selbstlos ihren Auffassungen nachhängen, sind, ähm …
Sofort aber weiß ich Wissenschaftler zu nennen, die bereit sind, für ihre Begeisterung persönliches Glück hintanzusetzen. Ich denke an so manche meiner früheren Mitarbeiter, die – fünfunddreißig- oder vierzigjährig und hochleistungsfähig – sich im Universitätsbetrieb bei einer 50-60-Stundenwoche mit befristeten und niedriggelöhnten Stellen abzufinden hatten. Schließlich mussten sie um die halbe oder die ganze Welt reisen, um irgendwo eine neue Anstellung zu finden, eine, auf der sie ihre wissenschaftliche Passion weiter verfolgen konnten. Klassenkameraden, die weniger begeisterungsfähig waren, haben „lohnendere“ Fächer studiert und arbeiten nun in Berufen, denen Geldsorgen ferne sind. Dieselben klagen dennoch über zu geringe Verdienstmöglichkeiten und streiken, während von den ersteren in der Öffentlichkeit nichts zu hören ist. Nichts hat sich seitdem geändert. Schade! Denn nichts braucht unser Land dringender als Menschen, die für ihren Beruf glühen, wenn wir dem globalen Wettbewerb auf Dauer standhalten wollen. Es scheint, als würde solcherart Haltung fast nur noch in Fernost gepflegt und fände sich hierzulande allenfalls bei Familien, die aus Fernost stammen. Dank den Eltern und Ehre den Lehrerinnen und Lehrern, die auch unsere Kinder in einem solchen Sinne erziehen und damit den allgemeinen Einebnungstendenzen trotzen.
Die Objekte der Begierde sind so verschieden, wie die Menschen es sind, die ihnen frönen. Für die Wahl mögen Schlüsselerlebnisse den Ausschlag geben. Und dann, wenn es im Schloss geschnappt hat, heißt es nur noch Breakdance und nicht mehr Fußball, nicht länger Münzen werden gesammelt, auch nicht Briefmarken, sondern Liebschaften, und schließlich muss es Ines sein, unbedingt die und keine andere, oder eben das Herz wird an Mike gehängt und nicht an René. „Bis über beide Ohren verliebt“, nennt das der Volksmund. Warum bloß diese Fixierung? Die von Amors Pfeil Durchbohrten erkennen einige Zeit später glasklar die Kehrseiten der Angehimmelten, warum fallen die ihnen nicht sofort ins Auge? Die Psychologie spricht von „selektiver Wahrnehmung“. Interessanterweise gibt es solche Art Scheuklappen auch bei Tieren, solchen, die in strenger Einehe leben, Gänse zum Beispiel und Papageien. Die Vögel wählen aus der Schar der Angebote einen einzigen Kandidaten aus, und für den entbrennen sie in unverbrüchlicher Leidenschaft. Menschen hingegen sind auf ihrem Evolutionsweg hin zur Monogamie noch nicht ganz angekommen. Wie sonst wollte man sich die hohen Scheidungsraten erklären?
Immerhin gibt es recht interessante Erklärungsversuche für den Mechanismus, der die leidenschaftliche Beziehung in Gang setzt, das „falling in love“, wie es die Engländer nennen. Ein Signalstoff, das Oxytocin, spielt dabei eine wichtige Rolle. Das Oxytocin, auch Liebes- oder Kuschelhormon genannt oder Treue- oder Vertrauenshormon, wird von bestimmten Nervenzellen gebildet, deren Fortsätze weite Bereiche des Gehirns durchziehen und unter anderem in der Insula enden. So nennt man einen tief eingestülpten Rindenbereich in der Schläfenregion unseres Gehirns. Im Sucht-Geschehen spielt die Insula eine große Rolle. Und die Leidenschaft ist nun mal ein suchtähnliches Ereignis. Mit speziellen bildgebenden Verfahren (funktionelle MRT, Brain Imaging) lässt sich nachweisen, dass es beim Anblick der Auserwählten je nach Heftigkeit des Verlangens in dieser Hirnregion zu Aktivierungen kommt. Dementsprechende Mengen an Liebeshormon werden in der Insula freigesetzt. Dieselbe Hirnstruktur ist vermutlich auch Teil der rosaroten Brille, die die weniger günstigen Seiten des Partners wegfiltert. Zumindest anfänglich.
„Durch die Leidenschaften lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß“ – wie trefflich das Nicolas Chamfort formuliert hatte! An anderer Stelle sagte er: „Die Vernünftigen halten bloß durch, die Leidenschaftlichen leben.“ War es Erfahrung, die den Dichter so zu schreiben lehrte? Oder doch nur die Sehnsucht nach einer solchen Erfahrung? Sehn-Sucht – womöglich immer noch besser als gar keine Leidenschaft.