Der nicht endende Flüchtlingsstrom offenbart die Orientierungslosigkeit der Regierung und steckt damit immer mehr Köpfe von Bürgern an. Kommt keine Lösung, verlieren am Ende alle Seiten.
An Regeln orientieren wir unser Verhalten. Sie sind notwendige Grundlage für das Funktionieren von Familien, Gruppen, von Staaten und Gesellschaftsformen.
Mit dem Ansturm tausender Flüchtlinge auf Europa, und insbesondere Deutschland, sind bisher vertraute Regelungen zusammengebrochen. Die des geordneten Asylverfahrens beispielsweise oder jene für eine geregelte Einwanderung. Die Kritik an der Bundesregierung und insbesondere der Kanzlerin Angela Merkel, die Zügel für verlässliche Verfahren losgelassen zu haben, wächst. Die Schelte an verantwortlicher Politik schlägt in einer Bandbreite von strikter Ablehnung von Flüchtlingsaufnahme bis hin zu Hass und Hetze nieder. Der Boden für Verschwörungstheorien ist fruchtbar, aber niemand spricht über die Verschwörer, die solche Theorien verbreiten.
Das Geschehen vermittelt ein Gefühl von Ohnmacht und zwar auf allen Ebenen. Die nicht enden wollenden politischen Debatten über angemessene Konzepte für Aufnahmeverfahren, Abschiebungslösungen oder Bleiberechtsregelungen sind anscheinend für einen großen Teil der Bevölkerung keine Orientierung, wie der deutsche Staat konkret mit weiteren Flüchtlingen umgehen will. Doch genau das brauchen die Bürger jetzt dringender denn je. Ohne solche richtungsweisenden Maßgaben wuchert nämlich die Orientierungssuche in den Bürgerköpfen. Längst bildet man sich eigene Meinungen. Und diese werden aus vielfältigen Kanälen gespeist.
Öffentlich-rechtlichen Medien und großen Zeitungen wird eher eine beschönigende Widerspiegelung der Geschehnisse unterstellt und damit eine Unterstützung der bisherigen Regierungsposition. Indes wächst vor allem im Internet und den sozialen Netzwerken eine Gegenbewegung, die sich in der Argumentation weiter zuspitzt. Hier finden sogar viele Falschmeldungen und Lügenszenarien Verbreitung und willige Aufnahme. Häufig werden die Quellen nicht beachtet, erfragt oder aufgespürt. Man teilt und verbreitet weiter und führt in der vermeintlich guten Absicht, andere bzw. Gleichgesinnte aufklären zu wollen, zu einseitigen Informationen und sich verstärkenden Negativ-Bewertung.
Probleme werden deshalb größer, weil immer mehr Menschen darüber reden. In der ersten Jahreshälfte haben sich die Deutschen über die Griechen und deren Finanzen heiß geredet. Heute ist das hellenische Gelddesaster maximal noch eine Randnotiz wert. An den Zuständen in Griechenland hat sich bisher nichts geändert. Sie sind eher schlechter geworden und der Bedarf für weitere Kredite bleibt bestehen. Die Griechen sind im Strudel der Flüchtlingsdiskussion einfach untergegangen.
Das Beispiel zeigt, dass Probleme eben nicht nur realer, sondern auch von gemachter Natur sind. Man könnte meinen, wenn die Bundesregierung nun endlich eine für alle Deutschen verständliche Richtung – welche Aufnahmezahlen, welche Verfahrensweise, wer organisiert wie was – geben würde, fände man eine gewisse Gelassenheit zu diesem Thema. Aber genau das macht sie nicht. Hier zeigt ganz einfach die Demokratie Grenzen. Die langwierigen politischen Prozesse, in denen sonst Gesetze und Regeln entstehen, werden der Dynamik der Flüchtlingsbewegung sowie der Bewertung darüber nicht gerecht. Genau das mündet in die lauter werdenden Forderungen nach kompromisslosen schnellen Entscheidungen. Solche Mechanismen mögen in der Diktatur funktionieren, nicht jedoch im demokratischen Meinungsbildungsprozess. Die Gefahr besteht nur darin, dass weiteres demokratisches Abwägen oder parteipolitische Blockaden wegen tradierter Standpunkte mit der Meinungsentwicklung der Bürger nicht Schritt hält.
Ein Indiz dafür ist die Radikalisierung der Sprache. Während eine Seite „Volksverräter“ und „Lügenpresse“ ruft, skandiert die andere „Nazis“ und „Rechtsextreme“. Gelöst wird nichts. Die Polarisierung geht unverrichteter Dinge weiter. Fakt ist, Tatsachen müssen auf den Tisch und zwar schonungslos. Nur Regeln und Orientierung, wie dieses Land mit den hierher strömenden Menschen umgehen soll, schafft Klarheit in den Köpfen. Regellosigkeit mündet darin, dass sich Menschen selbst organisieren und eigene Regeln setzen. Das liegt in der Natur des sozialen Wesens Mensch. Und das passiert längst. Einerseits in Demonstrationen, anderseits in extremis-tischen Erscheinungen. Der sogenannte „besorgte Bürger“ wächst in seiner Anzahl genau an diesen Prozessen.
Diskussionen und Meinungsaustausch sind sicher wichtige Bestandteile für die gesellschaftliche Richtungsentscheidung, diese helfen aber wenig, wenn das Phänomen Flüchtlingsbewegung keinen verlässlichen Kanal findet. Wir können auch noch konsequenter fordern, die Fluchtursachen zu bekämpfen, das wird den unruhigen Zustand nicht stoppen, weil Ursachen einfach nicht rückgängig gemacht werden können und eine Befriedung der Kriege in Syrien oder Afghanistan nicht in der Geschwindigkeit herzustellen sein wird, wie das Problem im Bewusstsein der Deutschen wächst. Gerade, weil der riesige Strom an Flüchtlingen zu einer Aussetzung und Auflösung geregelter Aufnahme und Registrierung geführt hat, jedoch nicht zu Verweigerung von Hilfe, ist es dringend geboten, das Regierungszepter des Handelns zu erkennen. Bleibt das aus, verlieren am Ende nicht nur regierende Parteien, sondern eigentlich alle, Demokratie, Politik, Bürger und Flüchtlinge. Die Folgen dieser Entwicklung kennen leider keine Gewinner. Thomas Wischnewski