Beim Boxen ist alles Kampf – vom Training über Disziplin in der Freizeit bis zum Wettkampf. Robert Stieglitz, zweimaliger Weltmeister, blickt auf 15 Jahre Box-Karriere als Profi zurück und musste immer kämpfen – um Siege, gegen Niederlagen, für einen Neuanfang. Am 12. November steigt er in seiner Heimatstadt Magdeburg noch einmal in den Ring. Diesmal geht es in seinem „Wohnzimmer“ Getec-Arena um den Europameistertitel. Von Rudi Bartlitz
Ein wenig irritierend klingt er auf den ersten Blick schon, der Anreißer für den nächsten Box-Großkampftag in Magdeburg. Mit Lokalmatador Robert Stieglitz sei, so heißt es in der Ankündigung seines Arbeitgebers SES-Box-Promotion, „der letzte Kämpfer“ zu besichtigen. Hört sich eher danach an, als stehe der berufsmäßige Faustkampf hierzulande vor einer nahenden Apokalypse.
Nun gut, klappern gehört zum Handwerk, im ebenso publicityträchtigen wie schrillen Boxgeschäft allemal. Und da hat „letzter Kämpfer“ eben einen Touch von „letzter Krieger“. Gemeint ist es auf jeden Fall positiv. Und legt man die Betonung auf das Wort „Kämpfer“ und würde das Adjektiv „echter“ hinzugefügt, käme man der Wahrheit noch näher. Denn das ist der 35-jährige Magdeburger auf jeden Fall: ein echter Kämpfer.
„Ja“, sagt der Mann, der als Sergey Shtikhlits im Jahr 2000 als Russlanddeutscher in die Heimat seiner im 18. Jahrhundert ausgewanderten Vorvorfahren zurückkehrte, im Gespräch mit Magdeburg Kompakt, „mit dem Begriff letzter echter Kämpfer kann ich mich identifizieren. Ich habe in den 15 Jahren meiner Laufbahn wohl alles mitgemacht, was es im Boxen gibt. 55 Mal habe ich im Ring gestanden, bin zweimal Weltmeister geworden und habe insgesamt 13 WM-Kämpfe bestritten.“ Aber, so räumt er ein, „es gab auch einige bittere Niederlagen.“ Von einer Karriere, die ihn einmal ganz nach oben an die Weltspitze führen sollte, hätte der unscheinbare, zurückhaltende junge Mann, der da zur Jahrtausendwende ein wenig verloren vor SES-Promoter Ulf Steinforth stand, wohl nicht einmal zu träumen gewagt. Stieglitz‘ in Magdeburg lebender Onkel hatte seinen Neffen – dessen Eltern hatten sich zuvor getrennt – mit der Aussicht nach Deutschland gelockt, hier seinem geliebten Boxen nachgehen zu können. Eigentlich, so war es gedacht, sollte Robert Stieglitz ja die Amateure des 1. BC Magdeburg, seinerzeit deutscher Amateurmeister, verstärken. Doch das Schicksal wollte es, dass BCM-Präsident Steinforth gerade seinen eigenen Profi-Boxstall, den ersten im Osten, gegründet hatte. Der Manager war von dem Wolgadeutschen („Den will ich“) so angetan, dass er ihm einen Vertrag anbot. Der junge Mann griff ohne zu zögern zu: „Ich wäre doch dumm gewesen, es nicht zu tun.“
Noch ahnten die allerwenigsten, was für einen Rohdiamant SES sich da an Land gezogen hatte. Einzig sein damaliger Trainer Werner Kirsch blinzelte seinerzeit verschwörerisch: „Aus dem wird einmal ein Weltmeister.“ Die zweifelnden Blicke ringsum übersah der alte Routinier geflissentlich. Stieglitz seinerseits blieb bescheiden, in jeder Hinsicht. Es blieb ihm auch kaum etwas anderes übrig. Zu seinem ersten Fight im noblen Magdeburger Maritim-Hotel erschien er, weil es ihm am entsprechenden gehobenen Outfit mangelte, noch in einem ausgedienten Pullover seines Promoters. Das gute Stück musste später noch das eine oder andere Mal herhalten ….
Umso schneller ging es dafür im Seilquadrat aufwärts. Stieglitz haute weg, was ihm vor die Fäuste kam. Und das in einem Hurra-Stil, der Faustkampf-Experten das Herz im Leibe lachen ließ. In seinem ersten Profijahr 2001 bestritt der Haudrauf binnen acht Monaten sage und schreibe acht Gefechte, so viel wie andere Athleten in drei Jahren. In sechs davon fand sich der Kontrahent ausgeknockt am Boden wieder oder wurde vorzeitig in die Ecke geschickt. „Ich wollte einfach nur boxen, boxen, boxen“, erinnert sich Stieglitz heute. Bald winkte der erste internationale Titelkampf: Im Herbst 2002 holte er den Junioren-Weltmeistergürtel an die Elbe.
Es gingen sechs Jahre ins Land bis zum ersten richtig traumatischen Erlebnis in der scheinbar schier grenzenlosen Karriere des Robert Stieglitz. Im März 2007 war es endlich so weit, er hatte sich das Recht erworben, in Rostock um die Weltmeis-terschaft kämpfen zu dürfen – das Ziel eines jeden Faustkämpfers. Doch gegen Alejandro Berrio gingen mit dem Magdeburger Supermittelgewichtler die Nerven durch. Auf die Deckung pfeifend, lief er in einen tödlichen Konter des Kolumbianers. Aus der Traum vom WM-Gürtel. Er war mit fliegenden Fahnen untergegangen. Doch jetzt erwies sich, dass er das heutige Prädikat vom echten Kämpfer zu Recht trägt. Er rappelte sich auf, trainierte noch gezielter, intensiver als je zuvor.
Gut zwei Jahre später kam sie, die erneute WM-Chance. Und diesmal nutzte Stieglitz sie. In der Höhle des Löwen in Budapest besann er sich auf seinen Kampfgeist, riss einen anfangs wackligen Fight noch herum, bezwang den bis dato ungeschlagenen Ungarn Károly Balzsay durch technischen Knockout. Magdeburg hatte seinen ersten Box-Weltmeister der Profis. Wenn man mit Stieglitz über dieses Gefecht spricht, kommt von ihm meist ein kleiner Hinweis: „Kurz zuvor hatte ich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten.“
Ja, dieser Tag im Magdeburger Standesamt, als er die Urkunde überreicht bekam, die ihn qua Papier nun auch als Deutschen auswies, hat unübersehbar Spuren in diesem Mann hinterlassen. Ihn geprägt. „Ich lebe jetzt über 15 Jahre hier“, sagt er heute. „Das ist meine Heimat, kein Zweifel. Wenn ich gefragt werde, wie viel noch russisch in mir ist, antworte ich so: vielleicht zwei Prozent, 98 Prozent ist deutsch.“ Das passt zu jenen Episoden von früher, als Stieglitz immer ein wenig unglücklich dreinschaute, wenn ein Trainingslager irgendwo in der Fremde anstand. „Ich fühle mich erst wieder so richtig wohl“, diktiert er einem Reporter damals in den Block, „wenn ich die Silhouette von Magdeburg vor mir sehe.“
Magdeburg ist auch jener Ort, der, zusammen mit Berlin, geografisch die Höhepunkte im Leben des Sportlers Robert Stieglitz markiert. In beiden Städten fanden zwischen 2012 und 2015 die inzwischen schon legendären vier WM-Fights gegen Arthur Abraham statt. Seither ist der Name Stieglitz auch im letzten Winkel der Welt ein Begriff. Der Ausgang des faustkämpferischen Vierkampfs ist bekannt: Dreimal (einmal davon höchst umstritten) setzte sich Abraham durch, einmal triumphierte der Magdeburger. Seit Juli 2015 ist Stieglitz kein Weltmeister mehr.
Es hätte niemanden verwundert, wenn der Schützling von Trainer Dirk Dzemski da im Alter von 34 Jahren gesagt hätte: „Ich habe genug erlebt. Es reicht.“ Doch nach einigen Monaten innerer Bedenkzeit, des Hineinhorchens in den Körper kam er zu dem Schluss: „Ich bin noch nicht fertig mit dem Boxen, habe noch nicht damit abgeschlossen. Ich liebe meinen Sport zu sehr, um jetzt schon aufzuhören.“ Eines stand jedoch fest: Im Supermittelgewicht (Limit 76,2 Kilo) wollte er sich nicht mehr quälen. „Das Herunterhungern hat zuletzt einfach zu viel Substanz gekostet.“ Jetzt, im drei Kilo höheren Halbschwergewicht, kann der Fleischfreund („am liebsten Lamm“) wieder das eine oder andere Kotelett auf den Grill legen.
Nun steht also am 12. November in Magdeburg ein Kampf um die Europameisterschaft gegen den französischen Titelträger Mehdi Amar an. „Europameister war ich noch nie, der Gürtel fehlt mir noch“ erklärt der Herausforderer. Und fügt hinzu: „Auch danach muss noch nicht Schluss sein. Denn, wenn ich gewinne, und das will ich, ist auch ein erneuter Weltmeisterschaftskampf nicht ausgeschlossen.“ Die Handschuhe an den berühmten Nagel hängen würde er vorerst nur, sagt er, wenn es die Gesundheit erfordere oder er erkenne, „dass ich im Ring leistungsmäßig nicht mehr mithalten kann“. Lachend fügt er hinzu: „Oder, wenn endlich meine Scheidung durch ist.“ Zur Erklärung: Seit sechseinhalb Jahren kämpft Stieglitz („Ich habe das Vertrauen in die Gerichte fast schon verloren“) um die Annullierung der Ehe mit seiner (Noch-)Frau Anna.
Um keine falschen Schlussfolgerungen aufkommen zu lassen: Aus finanziellen Gründen allein klettert ein Stieglitz, der heute im Großraum Magdeburg drei Häuser besitzt, nicht mehr in den Ring. „Der eine oder andere Boxer mag sein Geld vertrödelt oder verspielt haben. Ich bin ein sparsamer Mensch, ich habe meine Gagen stets gut angelegt.“ Um es spaßeshalber vielleicht einmal bildlich auszudrücken: Der eingangs erwähnte Pullover des Promoters hat längst Bekanntschaft mit dem Textil-Reißwolf gemacht, heute sieht man Stieglitz zuweilen im blendend sitzenden Designer-Anzug.
Beruflich bewegen sich die Zukunftspläne des Mannes, der von sich sagt, ein großes Boxtalent sei er nie gewesen, er habe sich vielmehr alles von Grund auf erarbeiten müssen, zwischen zwei Polen: Trainer und Immobilien. „Ich habe 2009 in meiner Geburtsstadt Jeisk in Russland ein Sport-Fernstudium abgeschlossen, könnte mir also zunächst durchaus einen Job als Co-Trainer bei SES vorstellen.“ Nebenher will der zweifache Vater – Sohn Oskar wird demnächst zehn, Tochter Valeria kam im Sommer 2016 zur Welt – „das eine oder andere Projekt“ in der Immobilienbranche anpac-ken. „Das macht mir Spaß, da könnte ich viele eigene Erfahrungen aus dem Hausbau einbringen.“
Auf die Frage, wie er in einem Satz seine gesamte Laufbahn umreißen würde, überlegt er kurz und sagt dann mit verschmitztem Lächeln fünf Wörter, die in ihrer Schlichtheit eigentlich so gar nicht zu einem letzten Kämpfer passen wollen: „Ich bin stolz und zufrieden.“