Die Leiden des Denkers

depressed man sitting in the tunnelDer Sommertag nahm Abschied. Schwül und ohne Luftzug welkte er unter der untergehenden Sonne. Die Hochzeitsgesellschaft war längst erdrückt von den Lobreden und einem üppigen Mahl.Cremes und Kuchen hatten still und satt gemacht.

Man stand im Garten und plauderte aneinander vorbei. Frauenlachen schallte dazwischen. Einer passte nicht in das Anstandsbild der Gäste. Sein schlichter Aufzug stolzierte nicht wie die feierlichen Kleider und Anzüge über den Rasen. Er wirkte wie eingebettet. Eine Harmonie legte sich über ihn und seine Erscheinung. Er redete nicht. Obwohl er sich abhob von allem, blieb die Irritation aus.

Meine Aufmerksamkeit blieb bei ihm und heiratete die Neugier. Das war der innere Schwur, um loszugehen. Er sah mein Kommen. Ob ihm der Hauch eines Lächelns über die Gesichtszüge glitt? Es war nicht deutlich und doch egal. Vielleicht wusste er, dass ich zu ihm herübereilen musste.

Wir waren schnell in ein Gespräch verwickelt. Ich habe vergessen, wie es sich entsponnen hatte. Möglicherweise hatte ich einen Satz des Philosophen Friedrich Hegels fallen lassen. Er ließ ihn nicht liegen und hob ihn mit Friedrich Nietzsche auf. Und plötzlich fielen immer mehr solcher Sätze und Überzeugungen. Ein Dunst alter Gedanken braute sich über uns zusammen und machte den Abend nicht leichter. Nun hörte ich zu und war von seinem Bericht gefesselt. Nietzsche – dieser düstere und bedeutungsschwere, deutsche Philologe war ihm einst unter die Haut gefahren. Es musste eine Satansgeschichte sein, die er mir offenbaren wollte. Besessen vom Denken, angezündet von der Idee, herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält, hatte er sich aufgemacht, hinabzusteigen in die Geistesgewölbe der Antike, der Aufklärung und der Moderne. Die höchsten Schulen sollten ihm die tiefsten Quellen der Erkenntnis sein. So lernte er Mystik von Metaphysischem zu unterscheiden. Dem Glauben wandte er sich zu wie der Wahrheit. Wiederkunft und Willen trieben ihn wie Moral und Pessimismus. Satz an Satz reihte sich in seinem Geist zusammen, fügte sich zu Bildern, Verstehen und Sehen, zu Einsichten, Ansichten und Verwerfungen. Was er auch versuchte, anzubauen, es fand sich immer eine Stelle, mit der sich alles verband, und doch wurde nichts fertig. Er war weiter durch die Labyrinthe aller Interpretationen gegangen, um sie zu vermessen und zu katalogisieren. Das eigene Archiv an Erklärungen hatte Ausmaße einer Kathedrale angenommen und dennoch Platz für eine ganze Religion darüber.

Zeit spielte für ihn keine Rolle. Was Jahrtausende nicht gedacht und aufgeschrieben wurde, würde sich auch jetzt nicht in einer kurzen Formel zeigen. Er war geduldig mit sich und den Philosophen. Es gab ganze Epochen gemeinsamer Grabenkämpfe und Kriege. Manche hatte er gewonnen und seine Widersacher weggestoßen, andere gar niedergemetzelt. Er wollte ein Sieger sein und sah die Wunden nicht, die er sich bei jedem Gefecht zuzog. Solche Wunden heilen nicht. Sie wachsen, treiben aus und schneiden sich in die Seele. Über ihm waren bald 20 Jahre ins Land gezogen und er irrte noch immer durch die Dunkelheit. Wo war die verheißungsvolle Erkenntnis geblieben und das Licht, das einen Weg zeigt? Er hatte ein Ziel, aber keinen Weg. Er kam nirgends an.
Erst jetzt beschlich ihn die Ahnung, dass er seine Seele verkauft hatte, dass er sich in Festungen aus reinen Gedanken verschanzt hatte. Durch die schmalen Öffnungen nach oben schimmerte wohl ein wenig Leben, aber sehen konnte er es nicht. Lange suchte er nach einem Spiegel. Die Bedeutungen, die er eingesaugt und verspeist hatte, taugten nicht als Reflektion. In der Theorie war kein Leben. Nur Illusion und Interpretation. Wer konnte helfen? Guter Rat war unerschwinglich geworden, weil der eigene keinen Lohn erhielt. Dabei wollte er niemals für andere eine Last sein, sondern selbst ein Licht. Jemand, der Gedanken und Ideen entzündet, der nicht stehen bleibt. Weiter sehen. Weiter denken. Bewegen. Freiheit im Denken schafft Gefangene in Erwartungen. Ich hörte sein Urteil und blieb doch taub.

Von Nietzsche hatte er sich verführen lassen und nicht gesehen, dass der Hort des Wissens ein Gefängnis war. Gedankenglieder wurden Ketten. Wie war er entkommen, sich selbst und dem Wort-Staub der Vergangenheit? Jetzt lachte er. Als seien die Jahre der Irrungen und Wirrungen nur ein kurzer Spaziergang gewesen, wies er mit dem Zeigefinger in die Ferne. Ich sah einen grünen Wagen mit bunt bemalten Zargen. Es war ein typischer Bienenstand. Ich ahnte die fleißig summenden Völker, die von dort ausschwärmen und die Blüten der Umgebung besuchen. Was sollte mir der Hinweis sagen? Ich brauchte eine Weile unter der Dämmerung bis ich Klarheit hatte.

Der Mann hatte die Bedeutungslasten abgeworfen und sich dem Lauf der Dinge zugewandt. Er war jetzt Imker und bei seinen Bienen. An Wochenenden vertrieb er sich die Stunden auf Märkten. Den vorbeischlendernden Leuten bot er Gläser mit Honig an, den ihm seine abertausenden Bienen zusammengetragen hatten, und kassierte deren Lohn. Jedes Mal traf er andere Menschen und manchmal welche, die er schon kannte. Geschichten wurden ihm erzählt und er sprach über seine Insekten. Die kleinen Honigmäuler, so nannte er sie liebevoll. Ihr Ertrag brachte ihm Reichtum. Nicht an Geld. Er war jetzt inmitten anderer Menschen, nahm an deren Leben teil und teilte das eigene. Das war für ihn eine neue Erfahrung, wenn auch eine späte. Jeder noch so kluge Gedanke, den er nachgelesen und verinnerlicht hatte, konnte ihm dieses neue Lebensgefühl nicht ersetzen. Keine Idee eines noch so anziehend erscheinenden Geistes war von derselben Magie, die im Lauf der Dinge steckte. Winzige Tiere hatten ihm Lohn, Sinn und ein neues Leben geschenkt.

Der Mann hatte etwas zu erzählen. Ich konnte mich nicht entziehen. Alles an dieser Begegnung war nun Sommernacht mit Grillenzirpen und Mückensummen. Das Gespräch mag schon einige Jahre in meiner Geschichte schlummern. Jetzt kam es ans Licht und holte mich an selbiges. Ich dachte nach, ob ich zu oft gedacht hatte, was wie werden würde, ohne zu sehen, wie was wirklich wird. Vor mir lag das Leben und in mir waren Gedanken. Wie beides zusammenpassen würde, überlegte ich und es roch wohl nach Hölle, als ich weiter darüber nachsinnen wollte. Der Sommer lag vor mir. Leben, lieben und lachen wollte ich. Spürbar sollte dies sein. Realität. Und nicht als Wunschtraum erschaffen im Leid des Denkens.