Der Journalismus befindet sich offenbar in einer Krise. Das Internet hat eine Informationsanarchie hervorgebracht. Im Anspruch der Selbstbehauptung agieren Medien jedoch eher wie eine verschmähte Diva.
Von Thomas Wischnewski
Im Selbstverständnis begreifen sich Medien im System der Gewaltenteilung als vierte Säule der Macht. Öffentlicher und privater Rundfunk sowie die Printmedien waren bisher der informelle Ausdruck von Macht neben Legislative, Exekutive und Judikative.
Doch der Pfeiler, für den sich Nachrichtenverbreiter und Meinungstransporteure hielten, bröckelt zusehens. Die digitale Welt hat die Vorherrschaft kanalisierter Inhalte aufgebrochen und neue, vielfältigere und teils unüberschaubare Verbreitungsmöglichkeiten geschaffen. Offenbar fällt es der Branche der klassischen Inhaltserzeuger schwer, Position und Existenzberechtigung neu zu definieren. Die entstandene digitale Informationsgesellschaft wird eher wie eine Parallelwelt und als Konkurrenz begriffen. Mit zunehmender Nutzungsdauer von Online-Medien schwindet ebenso die wirtschaftliche Basis der Zeitungsverlage.
Um einen Eindruck davon zu erhalten, was eigentlich passiert und welche Entwicklung sich abzeichnet, muss man einen Blick auf historische Wurzeln werfen. Die vorrangig mündliche Überlieferung von Informationen wurde durch den Buchdruck abgelöst. Dadurch verloren vor allem Priester das Vorrecht auf die Wahrheit. Plötzlich konnten sich neue Gedanken in gedruckten Werken eine Bahn brechen. Was Schwarz auf Weiß gedruckt war, hatte Bedeutung und Wert. Als dann Tageszeitungen ihre Verbreitung fanden – 1650 erschien in Leipzig mit den „Einkommenden Zeitungen“ zum ersten Mal eine Tageszeitung mit sechs Ausgaben pro Woche – erreichte die Nachrichten- und Meinungsausbreitung eine neue Qualität. Der eigentliche Aufschwung geschah aber erst, als die breite Bevölkerung auch des Lesens mächtig war. Einerseits war den Herrschenden daran gelegen, den Untertanen ihre Kunde zu übermitteln, andererseits war das Volk damit in die Lage versetzt, auch gegensätzliche Ansichten aufzunehmen.
Das Prinzip der veröffentlichten Information von Sender zu Empfänger blieb bis zur digitalen Revolution erhalten. Zwar kamen Radio und Fernsehen dazu, doch die Nachrichtenübermittlung erfolgte weiterhin in eine Richtung. Die elektronischen Medien haben zunächst nur die Verbreitungsgeschwindigkeit erhöht und später bewegte Bilder dazugefügt. Schwarz-auf-Weiß-Gedrucktes wurde quasi nur durch Filmbeweise ergänzt. Mit der elektronischen Nachrichtenübermittlung besuchten Weltereignisse die Wohnzimmer. Zeitungen blieben trotzdem eines der wichtigsten Meinungsbildner. Radio und TV lösten die Bedeutung des gedrucktenP Wortes nicht ab. Das schaffte erst das Internet.
Mit Anbruch des digitalen Zeitalters konnten Inhalte durch jedermann verbreitet werden. In den sozialen Netzwerken ist jeder Herausgeber, Verleger und Nachrichtenverbreiter zugleich. Veröffentlicht wird, was gefällt, einer persönlichen Ansicht entspricht oder Ausdruck von Glauben ist. Jede Information kann diskutiert, polemisiert oder gar diffamiert werden. Da sich die klassischen professionellen Nachrichtenerzeuger und -verbreiter auf das Netz stützten und alle Inhalte auf jedem möglichen Kanal anboten, entstand eine bisher noch nicht gekannte Informationsflut. Wahrheit und Lüge, Halbwahrheit und Scheinwissen, Illusion oder Verklärung stehen plötzlich gleichberechtigt nebeneinander und sind vom jeweiligen konsumierenden Geist abhängig, der nur glauben muss, was er sieht, liest und hört. Quellen sind oft unsichtbar, Transporteure intransparent, die Nachvollziehbarkeit über den Wert der Information spielt vielfach kaum eine Rolle.
Die bisher existierende Medienwelt bejammert den Prozess, obwohl sie ihn selbst beschleunigt hat. Aufhaltbar wäre er ohnehin nicht gewesen. Allerdings verharrt der Berufsjournalismus in althergebrachten Mechanismen. Informationen werden aufgenommen, ausgewählt, gefiltert und für eine entsprechend angenommene Leser-, Zuschauer- oder Zuhörerschar aufbereitet und verbreitet. Im modernen Verständnis könnte man das mit dem Lieferdienst „www.lieferando.de“ vergleichen.
Zeitgleich und schwarmartig entstehen jedoch Kontrameldungen, Ergänzungen oder gar ganze Gegenbewegungen. Die Macht etablierter Informationskanäle ist in Auflösung begriffen. Es scheint, als reagierten die klassischen Medien allergisch auf die Entwicklung. Sie stehen quasi mit Katzenvideos und Partyfotos auf Augenhöhe. Das mag manchen schmerzen. Man wirft Begriffe wie „Qualitätsjournalismus“ in den Ring der Selbstbehauptung. Eine virtuelle Parallelwelt der Informationsverbreitung darf auf keinen Fall eine Wertigkeit und Glaubwürdigkeit erreichen, die bekannte Medien bisher für sich beanspruchten. Doch genau in dieser reflexartigen Gegenwehr liegt das eigentliche Problem der professionellen Nachrichten- und Meinungserzeuger. Sie schlagen nämlich vielfach nur mit einer belehrenden Überzeugungstaktik zurück. Vermitteln den Eindruck, über dem Geschehen zu stehen, anstatt zu begreifen, dass sie nur noch ein Teil von allem sind. Das Selbstverständnis, Interpretations- und Moralinstanz sein zu wollen, hat ausgedient. Das waren die klassischen Medien nur bis zu dem Zeitpunkt, als sie die Hoheit über Nachrichten und Meinungen in ihren Kanälen bündeln konnten. Aus diesem Rollenverständnis haben sie sich bisher nicht befreit. Dozierende und pädagogisierende Belehrungen über richtig und falsch dürfen heute nicht aus dem Anspruch hergeleitet werden, Journalismus betreiben zu wollen.
Natürlich besitzen Redakteure noch vielfach den Vorteil, nahe am Geschehen sein zu können. Je mehr Menschen über die entsprechende Zeit verfügen und außerdem ein leidenschaftliches Sendungsbewusstsein einsetzen, um so stärker wird eine informative Gegenbewegung der Presse den Rang ablaufen. Wer an dem Konzept, Taxifahrer für Nachrichten zu sein, festhält, wird in der zunehmenden Informationsanarchie zu einer unbedeutenden Fußnote.
Außerdem werden Medien vom größer werdendes Problem ihrer Finanzierbarkeit flankiert. Werbung als Geldquelle sucht sich stets den Kanal höchstmöglicher Aufmerksamkeit für eine definierte Zielgruppe. Abo- und Verkaufserlöse, auf die vor allem Zeitungen ihre Basis bauen, schwinden weiter. Gesichert scheint derzeit nur der gebührenfinanzierte öffentliche Rundfunk. Doch wegen des sich auflösenden Wertes von Informationen durch die massenhafte Internetverbreitung steht eben dessen Finanzierungskonzept unter einer wachsenden Ablehnung.
Der Bild-Berlin-Verlagsleiter Florian Klages zeigte 2015 in Magdeburg noch stolz auf die 90 Prozent große Umsatzsäule der Printprodukte des Springer Verlagshauses. Aber er wusste dennoch keine Antwort darauf, wie sinkende Verkaufserlöse bei den Zeitungen künftig die Mehrzahl der Redakteure bezahlen sollen. Das Phänomen heißt: Immer weniger Journalisten sollen immer mehr Kanäle mit Inhalten füllen. Es ist absehbar, dass die Nachrichten- und Meinungseinspeisung aus professioneller Hand – auch im Internet – abnehmen wird. Deutschlands größte Tageszeitung, Bild, hatte zu besten Zeiten vier Millionen Käufer täglich. Aktuell liegt die Zeitung noch bei 1,8 Millionen Käufern. Der hiesigen Tageszeitung geht es nicht anders. Hatte die Volksstimme 2010 noch eine Auflage von über 190.000 Exemplaren, liegt die offizielle Gesamtauflage noch bei gut 160.000 Zeitungen. Bei allem Bemühen der journalistischen Mitarbeiter, müssen sie dort trendgemäß eine sinkende Anzahl an Redakteuren eine relativ stabile Seitenanzahl und gleichzeitig die Online-Angebote füllen. Die Zeit für vertiefende Inhalte, weitreichende Recherchen und die Ausbreitung von Hintergründen ist seltener vorhanden.
Der wirtschaftliche Sinkflug, wachsender Zeitdruck und der Zwang zur Vervielfachung der Informationen in Print- und Digitalangebote sind nur eine Seite der medialen Genese. Es geht vielmehr um das Selbstverständnis redaktioneller Arbeit. Missstände aufzuzeigen, Fehlentwicklungen zu markieren und offensichtliches Fehlverhalten anzuprangern – darin besteht sicher eine bleibende Existenzberechtigung für Journalisten und die dafür notwendige Voraussetzung entsprechender Kompetenz. Aber daraus eine alleinige moralische Existenzsäule zu definieren, kann nicht als zeitgemäß empfunden werden. Solange sich klassische Medien jedoch als Institution dafür begreifen, wirken sie eher kontraproduktiv gegenüber einer sich vermehrenden Informationsausbreitung.
Vielleicht liegt ihre Chance eher in einer Art neuen Sachlichkeit. Wissen, Fakten und Differenzierung, die Sichtbarmachung und Gegenüberstellung unterschiedlicher Ansichten könnte ein Ausweg sein. Wenn die „vierte Säule der Macht“ an ihrer geglaubten inhaltlichen Existenz festhält, wird sie sich im Meer der Meinungsverbreitung selbst marginalisieren. Aufklärung ist eine Sache des Aufzeigens von Hintergründen und vielfältiger Wissensvermittlung, aber niemals ein anmaßendes Dozieren zu journalistischen Überzeugungen oder verinnerlichten Werturteilen. Journalisten müssen sich in gewisser Weise neu in der ausufernden Medienwelt erfinden. Nachrichten- und Meinungstransport ist zu wenig, weil das können heute viele leisten.
Erwähnt werden muss auch, dass die Transformation der Medien stark die Politik beeinflusst. Konnten Parteien und deren Vertreter in der Vergangenheit über definierte Kanäle ihre Botschaften und Konzepte senden, fasert sich die politische Meinungsverbreitung und die Kritik daran ebenfalls auf. Sogenannte Stammtischparolen sind heute nicht mehr in der Kneipe, sondern im Internet omnipräsent. Viele Medien haben bereits ihre Kommentarfunktionen auf ihren Online-Angeboten geschlossen, weil sie dem Ansturm an verbaler Gegenwehr nicht mehr gewachsen sind. Das ist weniger ein Indiz tendenzieller Berichterstattung, sondern eher ein Anzeichen dafür, dass die Schwungmasse der Mitdiskutierer aufgrund der Möglichkeit so groß geworden ist, dass einzelne Informationskanäle der Bewegung nicht standhalten können. Genau deshalb funktioniert weder ein Konzept der Ignoranz – konträre Meinungen suchen sich dann eigene Kanäle – noch das Prinzip der Diffamierung und Abgrenzung. Letzteres befördert nur eine weitere Polarisierung und Radikalisierung.
Insbesondere unter wirtschaftlichem Druck befindliche Medien reagieren wie eine verschmähte Diva, die sich ihrer vergehenden Schönheit und Bewunderung nicht bewusst werden will. Möglicherweise wird mancher Beitrag deshalb mit besonderer Dreistigkeit und Penetranz formuliert, um nicht willkommenen oder verkürzten Ansichten eine besserwisserische Haltung entgegenzusetzen. Die Folge daraus wird eher mehr Abwendung sein, als die Stabilisierung von Glaubwürdigkeit und Achtung. Journalisten sind so wenig Pädagogen für die Gesellschaft wie Politiker. Wenn sie Aufklärer sein wollen, müssen sie tiefer graben. Eine Bedeutung aus dem Prinzip Arbeiter am Nachrichtenfließband herleiten zu wollen, greift zu kurz, egal wie viel Produktqualität man definieren möchte. Wer in der Informationsanarchie herausstechen will, muss sein Rollenverständnis darin definieren und nicht auf die Bewunderung des Publikums über die Schönheit des eigenen Kleides pochen.