Die Flüchtlingsdebatte schwappt über jeden Tellerrand. Hier werden die Auswirkungen der Digitalen Revolution sichtbar. Wohin führen Kontrollverlust und Diskussions-Hysterie?
Von Thomas Wischnewski
Mit dem Ausklang des 20. Jahrhunderts begreifen wir die fortschreitende Digitalisierung durch Computer als den Beginn des Informationszeitalters oder auch als Digitale Revolution. Die Tragweite dieser Veränderung wird uns offensichtlich erst jetzt durch die explosionsartige Zuspitzung der Kommunikation in der Flüchtlingsdebatte bewusst. Der Schwall an Positionierungen und Reflexionen darüber ist mit dem Zustand einer gesellschaftlichen Hysterie vergleichbar. Wie sich diese selbst nährt, ist klugen Zeitgenossen durchaus klar. In vereinfachter Weise könnte man das so zusammenfassen: Eine außergewöhnliche Situation wird zunächst medial aufgegriffen und bis ins kleinste Geschehen seziert. In den sozialen Netzwerken geht die Spuren-, Täter- und Verantwortungssuche weiter. Inzwischen haben sich die Standpunkte der Flüchtlingsablehnung, befördert durch die Kölner Ereignisse in der Neujahrsnacht, verfestigt. Mittlerweile drischt jede Seite nur noch verbal auf die andere ein. Die Reizwortschwelle ist weit über den Siedepunkt gestiegen. Deshalb eskalieren die Auseinandersetzungen häufiger in Gewaltbegriffe. Irgendwann bedarf es nur noch eines überschwappenden Auslösers und es droht die Gefahr bürgerkriegsartiger Entladung.
Flüchtlingsströme oder die Hilflosigkeit staatlichen Handelns gegenüber eigenen Rechtsnormen bzw. der Sicherheitsgewährung nach innen und außen schön zu reden, hilft genauso wenig, wie Asylsuchende pauschal zu verurteilen. Die öffentliche Debatte hat sich weit über die Tatsachen erhoben und beschäftigt sich mehr mit sich selbst als den Gegebenheiten und Erfordernissen. Regierung und politische Parteien erscheinen gegenüber der sich ausbreitenden Meinungshysterie genauso hilflos wie jeder orientierungslose Bürger, der im Inneren darum ringt, welcher Front er sich zugehörig fühlen will. Für die aktuelle Verfassung der europäischen Staatengemeinschaft kann zum Vergleich eine sehr treffende historische Analogie hergestellt werden. So neu sind die Mechanismen nämlich nicht.
Als der Mainzer Johannes Gutenberg mit der Verwendung beweglicher Lettern den Buchdruck erfand, löste er eine Medienrevolution aus. Ohne Gutenberg wäre beispielsweise die Verbreitung Luthers protestantischer Ideen gegenüber der katholischen Kirche nicht denkbar. Überhaupt hat erst das moderne Druckverfahren die Verbreitung von absonderlichen Meinungen ermöglicht. Kirche und Fürsten der damaligen Zeit reagierten gegenüber dieser Informationsrevolution vielfach gereizt und mit gewaltsamen Sanktionen. Ketzerprozesse gegen Wissenschaftler und Denker dieser Epoche nahmen sprunghaft zu. Auch in der Bevölkerung kam mit vielen neuen Gedanken Orientierungslosigkeit auf. Die herrschende Obrigkeit, insbesondere die Kirche, bedrohte als sündhaft bewertete Meinungen mit Gottesstrafe. Die Angst davor ließ den Ablasshandel erblühen. Die schwerste Folge dieser Entwicklung war der Dreißigjährige Krieg. Erst als die Kräfte und Möglichkeiten der breiten Bevölkerung erschöpft waren, sahen sich die verfeindeten Fürsten gezwungen, eine Einigung herbeizuführen. Der Westfälische Frieden als Schlusspunkt der Auseinandersetzung ist vorrangig nicht aus einem natürlichen Einigungswillen der katholischen und lutherischen Vertreter heraus zu erklären, sondern eher aus dem Verfallszustand einer Bevölkerungsmehrheit, die in den Lebensbedingungen am Rande des Möglichen existierte.
Von der Erfindung des Buchdrucks (1450) über Luthers Thesenanschlag (1517) bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1618) vergingen damals 168 Jahre. Die Möglichkeit der Informationsverbreitung war die grundlegende Bedingung für das Entstehen des Konflikts. Nach gut 25 Jahren Einzug von Computern in alle Lebensbereiche und einer Internetverbreitung, die bei nahezu 80 Prozent der deutschen Haushalte liegt, wird schnell deutlich, welche Dynamik die heutige Informationsverbreitung genommen hat.
Ein weiterer Aspekt muss im Zusammenhang mit dem derzeitig forcierten Meinungsaufprall betrachtet werden. Das Leben funktioniert in all seinem Facettenreichtum – ob in politischer Lösungsmechanik, in rechtsstaatlichen Abläufen, in ordnungs- und sicherheitsrelevanten Wirklichkeiten – nach wie vor sehr traditionell, man könnte auch analog sagen. Betrachtet man allein den parlamentarischen Betrieb, sieht man, dass sich die Mechanismen zwischen tatsächlichen Veränderungen oder interessengebundenen Gesetzesinitiativen über langwierige Fach- und Sachdiskussionen in Ausschüssen bis zur Abstimmung über ein Gesetz nicht verändert haben. Indes beschleunigt sich jede öffentliche Debatte über politisches Handeln. Stritten sich bis vor 15 Jahren noch vorrangig Politiker um die Richtung und Detailformulierungen von Regeln, wird heute der leiseste politische Gedanke, der sich mit einer Veränderungsidee beschäftigt, sofort öffentlich auseinandergenommen, mit Gegenargumenten beworfen, bis zur Unkenntlichkeit kaputtdiskutiert und versinkt nicht selten im Strudel größtmöglicher Aufregung.
Auch wenn Parteien bereits sehr massiv die sozialen Netzwerke für ihren Wahlkampf nutzen, bleiben sie dennoch im Aufstellen verkürzter Losungen gefangen und glauben, damit Eingang bei Wählern zu finden. Weit gefehlt. Das Gegenteil scheint einzutreten. Politik wird nur noch wie Produktwerbung wahrgenommen, und genauso wird auch mit ihr umgegangen. Gesellschaftlich wichtige Ideen und angemessene Konzepte werden unter immer kürzeren Zeittakten, in denen Botschaften ins Netz gehalten werden, nicht mehr verbreitet. Es kann kein Wunder sein, dass diese vorherrschende Verbreitungsform klassischer Wahlkampfmuster zu einer Abwendung der Bürger führt. Unterscheidungsmerkmale über Inhalte werden auf diese Weise nicht sichtbar, eine Auseinandersetzung mit Politik findet in stumpfer Überschriften-Rhetorik statt. Wurde dies bis Anfang dieses Jahrhunderts noch auf Wahlplakaten ausgetragen, setzt sich dieselbe Polemik nun im Internet fort und erfährt dort nur eine exponentielle Ausbreitung.
Die moderne Informationstechnik macht aber noch mehr möglich. Mittlerweile sind bei Facebook Roboterprogramme im Einsatz, die Stimmungen identifizieren können und in kürzester Zeit tausendfach teilen und auf anderen Profilen sichtbar machen. Solche Programme nutzen nicht nur Unternehmen für die Produktverbreitung, sondern zunehmend auch Akteure, die Meinungen in der Flüchtlingsdebatte in die eine oder andere Richtung befeuern wollen. Die Realität ist komplett ausgeschaltet. Wer sich dauerhaft dem Informationsbeschuss aussetzt, läuft Gefahr, seine Sichtweise einseitig zu verengen.
Auch die Rolle und Funktion der Medien muss in der Wirkung der Digitalen Revolution betrachtet werden. Im Zwang ständig hohe Reichweiten zu erzielen, stürzen sich Medien stets auf jedes Geschehen, dass aktuell die höchste Aufmerksamkeit verspricht. Hier folgen sie nur ihrem traditionellen Muster. Da die Informationsverbreitung jedoch einst geschlossene Kanäle wie Fernsehen, Radio, Zeitungen und Zeitschriften verlassen hat und nun online in einer interaktive Plattform stattfindet, ist es nicht verwunderlich, dass sie sich bei entsprechendem Aufregungspotenzial zusätzlich wie eine Epidemie entwickelt. Internet ist ja irgendwie, als würden Millionen Stimmen durcheinander reden, jeder ist Nachbar von jedem und Gerüchte verbreiten sich in Lichtgeschwindigkeit. Zeitgleich werden Gegenthesen, Kommentierungen, Zusatzerklärungen, Ablehnungen und Zustimmungen in einer Fülle sichtbar, die es im Analogzeitalter nie gab. Diese aktuellen Phänomene führen letztlich dazu, dass sich Politik und Presse gleichsam unter einem enormen Rechtfertigungsdruck fühlen. Sie produzieren unter dem Meinungsschwall einer Gegnerschaft wieder eine Flut an Beiträgen zur Untermauerung bereits veröffentlichter Berichte. Es lässt sich unschwer erkennen, dass unter dieser Dynamik ein sich selbst verstärkender Prozess abläuft. Solange sich dem niemand entzieht und selbst als Informationsverstärker agiert – egal, ob Medien, Parteien, Interessengruppen oder jeder Einzelne – solange wird sich die Meinungsflut beschleunigen und zu einer wirklichkeitsfremden Wahrnehmungsblase bis zum Platzen aufplustern. Was also im Internet, im Fernsehen oder anderen Medien an Informations- oder besser Meinungserruption ausbricht, entfernt sich weiter von den tatsächlichen Gegebenheiten. Die eigene Wahrnehmung trübt sich bei jedem, der die Verbreitung fortlaufend verfolgt. Am Ende ist jeder Auswuchs an Darstellung genauso wahr oder verfremdet wie die Schöpfungsgeschichte in der Bibel. Ein anderer Vergleich: So schrecklich und verabscheuungswürdig jede sexuelle Belästigung einer Frau ist, kein schrecklicher Mord hat vor dem Flüchtlingsstrom zu einem derartigen öffentlichen Aufschrei geführt. Es kann ergo etwas nicht mit der Einordnung an Realität stimmen.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass jeder, der am Verbreitungsprozess teilnimmt, zugleich Katalysator für dessen Verstärkung und Meinungspolarisierung ist. Die eigentliche Beunruhigung besteht darin, dass die Medienrevolution eingangs der Renaissance erst im Erlöschen der menschlichen Kräfte am Ende des Dreißigjährigen Krieges ihre Entladung und Neuorientierung gefunden hat. Die Menschheit lernte unter der Normalität verbreiteter Druckerzeugnisse einen gelassenen Umgang mit Meinungen. Erst in der kontroversen Ausbreitung und Verstärkung nationalsozialistischer Parolen wurde erneut ein gewaltiges Durcheinander und Ungleichgewicht in den Köpfen erzeugt.
Das Informationszeitalter stellt alle Grundlagen einer neuen großen Verunsicherung zur Verfügung. Deshalb muss dies nicht zwangsläufig in einen gewaltsamen Konflikt münden. Es scheint von der Gelassenheit und angemessenen Bewertung über ausufernde Positionierung und Meinungsverengung abzuhängen, ob die moderne Gesellschaft lernt, mit den Beschleunigungsauswirkungen der Digitalen Revolution auf die Köpfe der Menschen umzugehen. Gelingt dies nicht, kann sich die entfachte Hys-terie in einen Kontrollverlust steigern, dem sehr viele Menschen ausgelöst, befeuert und letztlich zum Ausbruch verholfen haben.