Es ist schwierig, mit Jugendlichen aber auch Erwachsenen über Fragen des Datenschutzes zu sprechen. Das dazu nötige Bewusstsein ist oft nicht vorhanden, die Probleme werden bagatellisiert oder völlig verdrängt. „Ich kann daran sowieso nichts ändern“ oder, „ich habe nichts zu verbergen“ sind die Standardantworten, kurz und gut, man lässt es einfach zu, dass Datenkraken wie Facebook, Twitter, Google, Amazon, Microsoft usw. permanent mitschreiben, wenn etwas auf ihren Plattformen getan, gesagt oder gezeigt wird.
Von Viktor Otte
Wer sich dennoch grundsätzlich dafür interessiert, was mit seinen persönlichen Daten ohne sein Wissen so alles geschieht, konnte vor einigen Wochen lesen, dass der Europäische Gerichtshof im Rechtsstreit zwischen Facebook und dem österreichischen Datenschutz-Aktivisten Maximilian Schrems das bisher gültige „Safe Harbor“-Abkommen zwischen der Europäischen Union und den USA mit der Begründung für ungültig erklärt hat, dass persönliche Daten europäischer Nutzer in den USA nicht ausreichend vor amerikanischen Behörden geschützt seien. Da sich die europäische Zentrale von Facebook in Irland befindet, kann nun Schrems vom irischen Datenschutzbeauftragten verlangen, dass er bei Facebook in Irland veranlasst, dass seine Daten nicht in die USA übermittelt werden.
Datenschützer in Europa jubeln. Endlich hatte man es Facebook mal gezeigt. Aber nicht sie, nicht die ganze Zunft der Datenbehüter hatte den Datenkraken in die Knie gezwungen, sondern ein einzelner Bürger, der trotz Abwiegelung und Boykott beharrlich sein Recht einforderte. Das lässt uns hoffen und wir können uns deshalb etwas tiefer mit der eigentlichen Frage beschäftigen, warum die privaten Unternehmen überhaupt Daten sammeln und vor allem, was sie damit beabsichtigen.
Ein Kind, das heute geboren wird, besitzt schon vor seiner Geburt eine digitale Existenz. Die stolze werdende Mutter postet selbstverständlich ihre Ultraschallaufnahmen vom Fötus an die ganze Familie, Freunde und Bekannte. Die „teilen“ die Bilder umgehend wieder mit ihren Freunden usw. Mit dem geborenen süßen Baby geht das natürlich so weiter. Der Teenager schließt sich an. Die Datenspuren lassen sich kaum verfolgen, geschweige denn löschen.
In den Servern der Unternehmen aber, die in diese Informationsketten einbezogen sind, entsteht ein digitaler Doppelgänger des Kindes, eine personalisierte Datensammlung, die primär erst einmal alles speichert, was über diesen Menschen verfügbar ist. Das macht vielen überhaupt keine Sorgen, denn sie können sich keinen Arg des Datenbesitzers vorstellen. Nun haben aber diese heutigen Datensammlungen nichts mehr mit einem Dossier früherer Zeiten zu tun, das statisch vor sich hin schlummerte, bis jemand Interesse an bestimmten Informationen zeigte. Otto-Normalverbraucher war da auch kaum tangiert, es ging mehr um Daten politisch oder wirtschaftlich relevanter Personen, deren Verdeckung oder Aufdeckung zum Vor- oder Nachteil Dritter genutzt werden konnte. Die Lage hat sich nun gründlich geändert: Jeder ganz normale Bürger ist in den Fokus der Datensammler getreten, weil die moderne Informationstechnologie erstens keinerlei relevanten Beschränkungen mehr bezüglich der zu speichernden Datenmenge unterliegt, zweitens, weil die Daten mit mathematisch-logischen Verfahren, sogenannten Algorithmen, nach allen möglichen Zusammenhängen durchsuchbar sind und drittens, weil die Daten- und Algorithmenbesitzer mit den Analysen viel Geld verdienen können. Es ist eine ganze Industrie entstanden, die unter dem Namen „Big Data“ ständig verbesserte, extrem personalisierte und lernfähige Algorithmen erzeugt, die durchaus schon als künstliche Intelligenzen bezeichnet werden können. Die Algorithmen sind insbesondere zu prädiktiven Analysen – oder einfacher gesagt – zu Prognosen fähig. Sie berechnen mit eiskalter Präzision, was die betroffenen Nutzer demnächst beabsichtigen oder tun werden. Jetzt wird es spannend: Wir selbst wissen es vielleicht noch gar nicht, oder es ist uns noch nicht bewusst, der Datenanalyst aber weiß schon, wohin wir wahrscheinlich demnächst fahren, wofür wir Geld ausgeben oder mit wem wir uns zukünftig streiten werden.
Man kann hier natürlich bei der Datensammlung auch fleißig helfen. Menschen, mit einem Faible zur Selbstoptimierung benutzen dazu Fitness-Apps. Sie lassen sich vielleicht von einer Krankenkasse, z.B. von der AOK Nordost, wie letztens bei tagesschau.de zu lesen war, eine Gesundheitsuhr mitfinanzieren, die ihren Puls, ihr Schlafverhalten, ihre sportlichen Aktivitäten usw. permanent misst und an die Kasse meldet. Das sind wunderbare Kunden für die Datenkraken. Sie liefern alles freiwillig, sollten sich allerdings später nicht wundern, wenn die Kasse bei Abweichungen von der Normalität an eine Änderung der individuellen Beiträge denken wird. Der Trend zu derartigen Wearables nimmt trotz zahlreicher Warnungen allerdings ständig zu, die Menschen können dem Sog der neuen technischen Möglichkeiten kaum widerstehen. Man darf aber nicht vergessen: Die Analyse-Algorithmen sind nicht nur lernfähig, sondern sie lernen mit jeder neuen Dateneingabe dazu. Sie kennen uns deshalb bald besser, als wir uns selbst kennen und sie können damit etwas, was bisher nicht erwartet wurde: Sie können uns natürlich helfen aber auch sehr schaden und – das sollte man stets bedenken – sie befinden sich im Besitz anderer Leute.
Lassen Sie uns deshalb mal einen kleinen gedanklichen Ausflug in die Karibik machen. Mit den Sklaven aus Afrika kam in den vergangenen Jahrhunderten auch eine westafrikanische Religion nach Amerika, speziell nach Haiti. Wer kennt es nicht, zumindest aus Hollywood-Horrorfilmen, dieses schaurig-unheimliche Voodoo, mit dem man über große Distanzen Heilungen aber auch Schmerzen erzeugen und sogar Morde begehen kann, indem man dem Opfer nachgebildete Puppen mit Nadeln oder Ähnlichem malträtiert. Nun denken wir zwar in Europa, dass das alles sicher nicht stimmt oder maßlos übertrieben ist und vergessen, dass wir gerade dabei sind, die Voodoo-Puppe digital aufzubauen.
Ein virtueller, digitaler Doppelgänger, eine aktive, durch lernende Algorithmen stets beobachtete und benutzte Datensammlung über uns auf irgendeinem Server in der Hand Dritter ist eine solche Puppe. Sie ist gefährlich. Sie kann uns schaden, wenn jemand das möchte und wir können uns nicht mehr wehren. Das Voodoo-Prinzip ist exakt eingehalten, Puppe und Mensch existieren an beliebig weit entfernten Orten, Manipulationen an der Puppe werden durch Fernübertragung am Menschen wirksam. Der bei Voodoo wirkende Analogiezauber, die schwarze Magie, bedient sich jetzt der digitalen Datensammlung. Zwischen dem Menschen als Subjekt und seinem digitalen Doppelgänger als Objekt existiert das, was man bei der Magie als analogische Beziehung oder sympathetische Wechselwirkung bezeichnet. Gruselt es Sie schon? Machen Sie sich bewusst, dass Sie mit Ihren eigenen Daten manipuliert werden können, man kann Ihnen aber auch ganz primitiv das Konto sperren, Ihre persönliche soziale Existenz beeinflussen, künftig Ihr digital gesteuertes Auto hacken und an den Baum fahren usw. Die Priester dieser neuen Religion sind die Besitzer Ihrer Daten.
Natürlich wird es noch schlimmer und es ist nicht aufzuhalten: Wir bekommen neben dem schon vorhandenen Smart-Handy neue Smart-Fernseher, die uns im Wohn- oder Schlafzimmer beobachten, neue Smart-Messtechnik, die die Hausfunktionen regeln wird und natürlich weiß, wer sich im Haus befindet, die berühmten Smart-Uhren und – wie könnte es anders sein – auch die Smart-Zahnbürste, die an die Datensammelstelle meldet, wann und wie gründlich wir uns die Zähne geputzt haben. Lustig, oder? Nein. Extrem gefährlich, denn wir werden immer stärker von fremden Entscheidungen abhängig. Unsere Freiheit und Demokratie sind in großer Gefahr. Es wird also Zeit, dass wir darüber nachdenken, wie wir uns wehren können. Absolute Abstinenz in der Nutzung unserer modernen Informationstechnologien ist kaum möglich und für große Teile der Bevölkerung völlig unrealistisch. Eine Lösung von unten her, vom Benutzer der Smart-Technik, wird es nicht geben. Wir müssen also nach oben sehen, zum Gesetzgeber, so, wie es uns das vorn beschriebene Urteil des Europäischen Gerichtshofes schon gelehrt hat.
Hilfe naht deshalb von einer Seite, an die wir bisher am wenigsten gedacht haben, nämlich von unserem Grundgesetz. Dort steht in Artikel 1, Absatz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. In einer Auslegung dieses Paragraphen hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer sogenannten „Objektformel“ festgelegt, dass die Würde des Menschen auch dadurch einzuhalten ist, dass er nicht zum bloßen Objekt gemacht werden darf, d.h., dass er einen Anspruch darauf besitzt, in allem stets als Subjekt und nie als Objekt behandelt zu werden und dass ihm insbesondere bei Entscheidungen über ihn auch ein Mitwirkungsrecht eingeräumt werden muss.
Wenn man das ernst nimmt, wird sofort klar, dass die Besitzer unserer digitalen Daten nichts damit tun dürfen, ohne uns zu fragen, denn sie behandeln uns als Objekt. Unsere Daten sind aber Teil von uns. Subjekt und Objekt sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn sie also mit unserem digitalen Doppelgänger arbeiten, um uns – wie bei einem Voodoo-Ritual – in irgendeiner Form zu beeinflussen, begehen sie Rechtsbruch. Wir sollten deshalb den Staat auffordern und demokratisch zwingen, uns durch Gesetzgebung vor der Vereinnahmung durch die Datensammler und ihren Analysemethoden zu schützen. Tut er es nicht, werden wir zukünftig ziemlich wehrlos vielfältigen Angriffen auf unsere Menschenwürde ausgeliefert sein.
Prof. Dr.-Ing. Viktor Otte, Mitglied des Magdeburger Professorenkollegiums „emeritio“, studierte und promovierte an der jetzigen Technischen Universität Ilmenau, arbeitete über zehn Jahre in der Forschung bei Carl Zeiss in Jena, war als Dozent an der Universität Magdeburg tätig und arbeitete ab 1991 an der Universität Wuppertal, Fakultät Maschinenbau.