Meine im Großen und Ganzen unbeschwerte Kindheit verbrachte ich in Stadtfeld in der Immermannstraße. Warum unbeschwert? Ich war ein dünnes, aber glückliches Kind, denn ich hatte viele Freunde in der Straße. Und um meinem Magersein entgegenzuwirken, nutzte ich die vielen Einkaufsmöglichkeiten in der Immermannstraße.
Es buhlten zwei Bäcker, zwei Geschäfte der Kategorie „Obst und Gemüse“, zwei Konsumverkaufsstellen, zwei Glasbiergeschäfte und ein Haushaltwarenladen um die Gunst des potenziellen Kunden.
Mein Favorit unter den Handel Treibenden war ganz klar Bäcker Braune. Der heutzutage nie wieder erreichte Geschmack seiner leckeren Salzbrezeln korrumpierte mich. Ich reihte mich freiwillig jeden Sonnabend um 6.30 Uhr in das Wartekollektiv vor der Bäckerei ein. Die Schlange war immer so lang, dass ich annehmen musste, die komplette Immermannstraße gierte nach den ofenfrischen Salzbrezeln. Um die Wartezeit etwas zu vertreiben, zählte ich die Luftmaschen im noch leeren Einkaufsnetz. Manchmal musste ich so lange warten, dass ich diese Maschenzählaktion drei bis vier Mal wiederholte. Ich kam jedes Mal zu einem anderen Ergebnis. Aber egal. Wenn sich das Einkaufsnetz dann mit frischen Brötchen und Salzbrezeln füllte, war das Warten vergessen und stolz präsentierte ich meiner Familie den „erwarteten“ Schatz.
Für uns Kinder aber war der Kiosk „Zottmann“ der ultimative Schatzladen. Am Olvenstedter Platz Ecke Immermannstraße öffnete „Zottmann“ uns Kindern die Eingangstür zum Paradies. Hier gab es alles, was es nicht gab, und es gab es trotzdem. Unsere nach Süßigkeiten gierenden Kinderaugen sahen aber nur diese riesigen Gläser. Bis oben hin gefüllt mit Bonbons. Die Deckel der Gläser hatten oben drauf einen lustigen Pips. Auch aus Glas. Wenn das Taschengeld frisch in der Hosentasche war, also zahlenmäßig noch hoch bemessen, schlug ich zu! „Bitte, Frau Zottmann. Ich möchte 100 Gramm Kaubolchen“. Dann öffnete Frau Zottmann die gläserne Bonboniere, sie nahm also den Deckel mit dem lustigen Pips ab und füllte mit einer kleinen silbernen Schaufel die von mir gewünschten „Kaubolchen“ in eine kleine braune Papiertüte. Dann wog sie die kunterbunten Bonbons ab. Der analoge Zeiger der Waage zeigte unbestechlich 104 Gramm an. Mit einem Augenzwinkern gab sie mir die Tüte und sagte: „Stimmt so!“ Zum Monatsende hin, wenn auch das Taschengeld endete, konnte man bei „Zottmann“ trotzdem „Kaubolchen“ käuflich erwerben. Wenn sich nur noch vier lumpige Pfennige in der großen leeren Hosentasche graulten, dann kaufte man eben nicht Grammweise sondern Stückweise. Für vier Pfennige gab es ganze vier „Kaubolchen“. Quasi ein Umtauschkurs von Eins zu Eins.
Doch ich lebte ja nicht nur von „Kaubolchen“. Die Grundnahrungsmittel spielten wohl doch eine wichtigere Rolle zum Lebenserhalt. Vor allem dann, wenn der stille Schrei durch die Immermannstraße hallte: „Es soll was geben!“ Dann schnappten alle ihre Einkaufsnetze und stellten sich an. Was es gab, erfuhr man meistens erst wenn man dran war. Aber dann, war das was es gab, meistens schon alle. Doch diese Einkaufsnetze waren bei allen potenziellen Einkäufern immer dabei. Weil: Es könnte ja mal wieder etwas geben.
Heute geht man ja nicht mehr mit dem Netz einkaufen. Nein! Wer etwas auf sich hält kauft im Netz. Die freundliche Frau Zottman ist durch einen flimmernden Bildschirm und eine nervig klappernde Tastatur ersetzt worden. Der Computer zwinkert nicht mit dem Auge und sagt verschmitzt: „Stimmt so!“ So ein Computer bleibt eben hart. Darum heißt es wohl auch Hardware. Das Einkaufen im Zwischennetz ist sicher eine tolle Errungenschaft der modernen Technik. Ist aber auch, und das sollte man nicht vergessen, oft der Dolchstoss für den Einzelhandel in den Städten. Viele kleine Geschäfte stehen leer. Auch die vertrauten Beziehungen zwischen Käufer und Verkäufer schwirren eben nicht via Internet durch den Äther. Die oft gepriesene Verkaufskultur mutiert immer mehr zum Kaufrausch.
Sie können mich jetzt auslachen, aber ich habe noch nie ein Paket oder Ähnliches von UPS oder anderen Warenbeschleunigern bekommen. Ich gehe weiter brav einkaufen. Wie auch immer ohne Netz.
Halt! Eines noch. Neulich im Traum da habe ich mich doch erwischt. Ich saß vor dem Rechner und wollte etwas bestellen. Kaubolchen. Ich gab ein: www.zottmann.de. Doch mein Computer piepte monoton: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Im Traum geht so was.
Herzlichst, Ihr Frank Hengstmann