Zeit vergeht. Die Zeiten ändern sich. Nie geschieht etwas zur rechten Zeit. Unsicher bewegen wir uns in der Zeit und glauben, ihr nicht gerecht zu werden. Ein Zeitgespräch mit Fragen zur Zeit.
Ach, du liebe Zeit, können Sie mal kurz stehen bleiben? Ich hätte da ein paar Fragen.
Zeit: Mit dem Stehenbleiben habe ich ein Problem. Aber verraten Sie mir bitte, woher Sie wissen wollen, dass ich lieb sei?
Das ist doch eine übliche Redewendung. Da ich Ihrer schon habhaft werde, würde mich interessieren, warum Sie immer so schnell vergehen? Oder haben Sie jetzt keine Zeit?
Zeit: Ich bin immer, also habe ich. Das mit dem schnellen Vergehen ist wohl eher ein Missver-ständnis Ihres Kopfes.
Der Eindruck über Ihre Schnelllebigkeit ist allerdings ein permanenter.
Zeit: Mit mir hat das wenig zu tun. Die Schnelllebigkeit ist ein Phänomen Ihres Seins zwischen Geburt und Tod. Ich glaube, Sie kennen mich gar nicht richtig.
Wie kann ich Sie besser kennen?
Zeit: In dem Sie mich lernen. Gewissermaßen tun Sie dies Ihr ganzes Leben lang. Hören Sie auf, mich zu begrenzen, dann würden Sie mich besser verstehen.
Ich begrenze Sie gar nicht. Sie gehen doch sowieso immer weiter.
Zeit: Und warum sagen Sie dann solche Sätze wie: die Zeit läuft ab?
Weil jeder behauptet, dass Sie irgendwann vorbei seien oder dass die Zeit zu Ende ginge.
Zeit: Zu Ende geht Ihr Leben. Es ist irgendwann vorbei. Das ist Fakt. Ich bin immer.
Aber ständig sind doch andere Zeiten.
Zeit: Für Ihren Irrglauben können Sie mich nicht zur Verantwortung ziehen.
Wollen Sie mir helfen, Sie besser kennen zu lernen?
Zeit: Sie müssen sich schon selbst helfen. Ich kann Ihnen nur einen wagen Ansatz schenken, um mich besser zu verstehen. Das Übel fängt schon in der Schule an. Man bringt Ihnen mit sieben oder acht Jahren die Uhrzeit bei. Sie lernen, mich einzuteilen. Wenn Sie das begriffen haben, sind Sie davon überzeugt, zu wissen, was Zeit sei. Doch Sie haben keinen blassen Schimmer, wie sich zehn Jahre anfühlen, weil sie diese noch gar nicht gelebt haben. Verstehen Sie jetzt, warum Sie mich nicht kennen können?
Das hieße dann, je länger ich lebe, um so besser kenne ich Sie?
Zeit: Kennen bleibt eine Anmaßung. Sie wachsen ein wenig in mich hinein, ohne mich je auszufüllen.
Kann es nicht sein, dass Sie verschwunden sind, wenn ich tot bin?
Zeit: Könnte sein. Mir scheint, es ist wahrscheinlicher, dass Sie ziemlich komische Sachen glauben. Sie vergessen, dass ich auch in den Anderen bin bzw. sie in mir. Es ist egal, von welchem Standpunkt aus sie das betrachten.
Aha, ich verstehe – Einstein: Zeit ist relativ!
Zeit: Einstein ist überbewertet.
Das ist nicht Ihr Ernst, Einstein ist unantastbar!
Zeit: Nicht so lange er lebte. Jetzt ist eine andere Zeit. Das denken Sie doch. Er versuchte auch nur, mich mit von den Menschen erfundenen Maßeinheiten als Phänomen zu beschreiben. Wissen Sie, was genauso unbeschreiblich ist wie ich? Ihre Einfalt.
Aber sie vergehen doch!
Zeit: Sie wollen es nicht begreifen. Ich bin immer, in Ihnen, in den anderen, in allen, die waren und in jenen, die kommen. Vergehe ich oder Sie? Sie müssen endlich annehmen, dass ich genauso einzigartig und individuell bin, wie alle, die denken können, denken. Was ist daran relativ? Das ist absolut und deshalb nicht greifbar.
Ich sehe doch, wie der Tag vorbeigeht oder erlebe wie ein Augenblick verstreicht.
Zeit: Sie erleben es. Was hat das mit mir zu tun? Es muss Ihnen doch langsam mal klar werden, dass Sie selbst die Vergänglichkeit sind und nicht ich.
Ständig kommen doch Idioten und stehlen mir Zeit. Dann sind Sie unweigerlich weg.
Zeit: Ganz bestimmt. Zurück bleiben dann zwei Idioten ohne Zeit.
Jetzt werden Sie beleidigend.
Zeit: Ich bitte Sie, wer beleidigt hier eigentlich die ganze Zeit wen? Meinen Sie, weil Sie mir Aufmerksamkeit schenken, dass Sie dabei Zeit gewinnen könnten?
Ich gewinne Erkenntnis.
Zeit: Über mich? Da fragen Sie mal gefälligst die Erkenntnis, ob Sie das ist, was Sie in ihr sehen wollen. Ihre Einbildungskraft ist schon beeindruckend.
Sie sind ganz schön unverschämt.
Zeit: Schlimmer. Sie haben mich doch mit „ach du liebe Zeit“ angesprochen. Ich hatte Sie gewarnt.
Jetzt bin ich völlig orientierungslos.
Zeit: Das war vorher nicht anders. Ihre Orientierungsversuche sind Ihr Problem.
Tut mir leid, ich wollte Ihnen keine Zeit stehlen.
Zeit: Was möchten Sie mir stehlen?
Ich würde Sie so gern halten.
Zeit: Das wollen alle. Machen Sie ruhig weiter so, um so weniger wird von mir bleiben. Sie glauben doch, dass ich weniger werde. Es tut mir leid, dass ich Sie verwirrt habe, oder waren Sie das nicht vorher schon?
Thomas Wischnewski