Entwurzelt Halt finden

111215PG_Sonsalla10Heinrich Sonsalla – ein Porträt

Heinrich Sonsalla verabschiedet sich in den Ruhestand. 20 Jahre lang war er Chef der städtischen Wohnungsbaugesellschaft und damit einflussreichster
Immobilienmanager der Stadt. Ein Blick auf den Menschen mit seinen  Wurzeln und Wirkungen.

Von Thomas Wischnewski

Zerstörung und Zeitenwandel haben Magdeburg im Verlauf der Geschichte schwer zugesetzt. Das Gesicht der Stadt änderte sich immer wieder. Nach der totalen Auslöschung 1631 war ein Neuaufbau nötig. Die Industrialisierung sprengte erst die preussischen Festungsmauern und brachte den Ort an der Elbe dann zu bisher einmaliger Größe. Die versank jedoch am 16. Januar 1945 unter den Bomben angloamerikanischer Angriffe in Schutt und Asche. Wieder ein Aufbau, aber mit tiefen Narben. Nach der Deutschen Einheit begann eine Generalmodernisierung. Was für Menschen sind das, die solche Aufgaben anpacken und meistern? Sind Magdeburger aus einem besonderen Stoff aus Beharrlichkeit und Mut gewebt? Braucht es mehr Rückgrat und Selbstbewusstsein? Bestimmt. Doch wie erklärt sich das Reifen derartiger Charaktere und wie oder wo werden diese sichtbar?
Heinrich Sonsalla ist seit fast 20 Jahren Geschäftsführer der Wohnungsbaugesellschaft Magdeburg mbH (Wobau). Manche würden vielleicht sagen: Das ist einer von denen da oben. Was ist oben und wer stellt sich selbst nach unten? Oben – da stehen die Bestimmer. Solche, die Regeln vorgeben, anweisen und entscheiden. Und die anderen müssen dann ausführen und machen. Über 200 Mitarbeiter sind für das städtische Unternehmen tätig. Mit über 20.000 Wohnungen und 500 Gewerbeeinheiten ist die Wobau der größte Vermieter und Immobilieneigentümer Magdeburgs. Die Jahresbilanzsumme liegt bei über 750 Millionen Euro. Das mögen beeindruc-kende Zahlen sein. Im wirtschaftlichen Maßstab Deutschlands bewegt sich die Wobau damit im Feld mittelständischer Unternehmen. Wie fasst man dennoch die Verantwortung, die auf den Schultern eines Heinrich Sonsallas lastet? „Ohne meine Mitarbeiter bin ich hier gar nichts“, sagt der Wobau-Chef. Ohne das städtische Grund- und Gebäudevermögen und fast 40.000 Menschen, die darin leben ebenso wenig. Bevor also überhaupt oben einer wirken kann, muss ein lebendiges Fundament existieren.
Der Sockel, den Sonsalla 1996 nach der Entlassung der Vorgängergeschäftsführung für die Zukunft mauern sollte, bestand vorrangig aus DDR-Plattenbauten. Außerdem hatten zu dieser Zeit viele Magdeburger ihrer Stadt den Rücken gekehrt. Waren dahin verzogen, wo es Arbeit gab, oft in den Westen. Andere trieb es ins Umland, um Eigenheimträume zu verwirklichen. Ein wachsender Leerstand bohrte sich in den wirtschaftlichen Unterbau der Wobau. Altschuldenverpflichtungen kamen hinzu und Rückführungsansprüche mussten erfüllt werden. Die deutsche Politik forderte Teilverkäufe aus dem Eigentumsbestand der öffentlichen Hand. Und über allem schwebte außerdem der enorme Modernisierungsdruck. Mieter wünschten eine schnelle Überwindung bisheriger DDR-Standards. Das alles konnte keiner allein bewältigen. Man versteht also, warum Sonsalla sein Mitarbeiterteam in den Vordergrund rückt. Das Unternehmen brauchte für alle großen Vorhaben und Aufgaben auch stets den Rückhalt im Stadtrat. Dort werden die Grundsteine für die Geschicke des städtischen Eigentums und der Infrastruktur gelegt. Als Chef eines städtischen Betriebes muss man auch Akzeptanz und Respekt gegenüber Entscheidungen aufbringen können, die möglichen eigenen Plänen entgegenstehen.
Woher nahm ein Heinrich Sonsalla die vielen notwendigen Fähigkeiten für die übernommene Verantwortung? Mitarbeiterführung und -motivation, wohnungswirtschaftliche Kenntnisse, bautechnisches Verständnis, betriebswirtschaftliches Wissen, verwaltungsrechtliche Grundlagen, städtebauliche Sichtweisen – wie verinnerlichte jemand, der einst als Schlosser gearbeitet hatte, die Komplexität so unterschiedlicher Bereiche? Man muss immer erst nach unten schauen, bevor begreifbar wird, was oben rauskommt.
Am 21. Juli 1950 wird Heinrich Sonsalla in Wegeleben geboren. Über den Ort sagt er: „Da gibt es drei Besonderheiten: den Fußballer Jürgen Pommerenke, einen tüchtigen Karnevalsverein und eben Heinrich Sonsalla.“ Vor diesem Fazit muss man allerdings in seiner Familiengeschichte graben. Der Vater kam als Flüchtling aus Oberschlesien, die Mutter aus Litauen nach Halberstadt. Die Zerstörung der Harzstadt erlebten sie mit. In Wegeleben, östlich von Halberstadt, fanden sie später Aufnahme und ein neues Zuhause. In einem kleinen dörflichen Gemeinwesen bleiben Neuankömmlinge irgendwie immer wie Fremde. Das verbindet. Der katholische Pfarrer war einer der wenigen, der Integrationsarbeit leistete und sich den Heimatvertriebenen angenommen hatte. Die Kirchengemeinde knüpfte damals die einzigen sozialen Bindungen für die Entwurzelten in Wegeleben. Wer unter solchen Umständen im Schoß der Kirche aufwuchs, entwickelte Nähe zum Glauben und fremdelte mit dem entstehenden sozialistischen Staat. In einen Gesangsnachmittag der Glaubensgemeinde drangen Jugendliche gewaltsam ein. Sie trugen Blauhemden und warfen Steine gegen die kleinen „Feinde“ unter dem Gottesdach. Heinrich Sonsalla musste das als Kind erleben. So eine Begebenheit prägt und kann aus den Erinnerungen nicht einfach ausgelöscht werden.
Als 1968 der Prager Frühling unter stahlharter Kälte russischer Panzer erfroren war, hatte Sonsalla das 18. Lebensjahr erreicht. Wärme schenkten ihm wahrscheinlich die Theatergruppe und die Musik in einer Schulband. Vier Jahre später hängt er mit anderen jungen Mitstreitern bei einem Jugendtreffen am Petersberg nördlich von Halle ein Protestplakat auf. „Spießbürger“ stand darauf geschrieben. Heinrich Sonsalla war für die Doktrin des Sozialismus nicht mehr empfänglich. Die Ableistung des Wehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee kam für ihn nicht infrage. Und er hatte sich damit abgefunden, in der DDR ganz unten zu schuften. Autoschlosser hatte er deshalb gelernt und einige Zeit später arbeitete er als Schweißer auf dem Bau. Ernsthafte Gedanken, in den Westen zu gehen, hätte er nie gehabt. Welche Wurzeln hätte er dort finden sollen?
Halt schenkte ihm erneut die Kirche. Vom Staat war ihm das Studieren verweigert worden, aber an seiner kirchlichen Schule in Magdeburg konnte er Sozialarbeiter und Sozialpädagoge werden. Mehrere Jahre war er als solcher tätig. Schließlich wurde er Leiter derselben Schule, die ihn ausgebildet hatte.  Einen Weg bis hierher zu bestehen, braucht sicher ein gesundes Selbstvertrauen sowie eine gewisse Unverzagtheit, um ohne Aussicht auf höhere Berufung und scharf am Gegenwind sozialistischer Gängelung nicht einzuknicken. Jahre gingen darunter ins Land. Die Realität schleift fortwährend an der Persönlichkeit eines Menschen, auch an der von Heinrich Sonsalla. Möglicherweise muss einer, der nicht auf eine tiefe familiäre Verwurzelung blicken kann, zu einem werden, der eher Halt in dem findet, was er tut. Beim Tun ist Heinrich Sonsalla offensichtlich oft sehr engagiert. Aufgaben sind Sprossen, an denen man sich festhalten kann und einen Sinn fürs Leben schenken sie ohnehin. „Wenn es darum ging, eine Aufgabe zu übernehmen, habe ich stets hier gerufen“, bekennt er.
Deshalb verwundert es nicht, dass er 1990 für die CDU in das Stadtparlament einzieht. Aufgrund seiner Ausbildung und weil er politisch nicht belastet ist, will ihn der damalige Oberbürgermeister Dr. Willi Polte als Leiter des Magdeburger Sozialamtes sehen. „Mach mal das Sozialamt“, soll er gesagt haben. Sonsalla machte. Sozialhilfeempfänger, deren Betreuung und Unterstützung oder Wohnungslosigkeit waren bis dahin unbekanntes Terrain. Das plötzlich hereingebrochene Sozialrecht der Bundesrepublik ist ein Buch mit sieben Siegeln. Geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter galt es, zu finden. Sicher waltete bei den Einstellungsentscheidungen ein gewisser Pragmatismus. Aber Sonsalla hatte aus eigener Erfahrung einen geschulten Blick erworben, der in anderen einen offenen Geist für unbekannte Aufgaben ahnte. Zugleich müssen Betriebsärzte abgewickelt und Polikliniken aufgelöst werden. Auch für Betriebskindergärten war im neuen Rechtsverständnis zunächst kein Platz.
Das gesellschaftliche Gefüge der DDR hatte bisher einen klaren Rahmen vorgegeben. Jetzt war alles neu. „Ich hatte ein Gefühl, wie zwischen den Stühlen zu sitzen“, fasst Heinrich Sonsalla das Erleben der Umbruchphase zusammen. Sicher war das ein wenig wie Entwurzelung. Nach fünf Jahren hatte die Arbeit des Sozialamtes Struktur, obwohl der Bereich stets ein sehr sensibler bleibt, weil er ganz eng mit dem Schicksal vieler Menschen verwoben ist.
1995 wechselt er als Hauptabteilungsleiter in das städtische Wohnungsunternehmen. Einer der damaligen Geschäftsführer hatte mit anderen Beteiligten bei Verkaufsverhandlungen für Teile der Leiterstraße in die eigene Tasche gewirtschaftet. Die Wobau brauchte einen personellen Neuanfang an der Spitze. Sonsalla erschien Stadträten und OB Polte aufgrund des zurückliegenden Managementgeschicks geeignet. Ins Vertrauen gegenüber auswärtigen Fachleuten war eine Wunde gerissen worden. Altschuldenregelung, Rückführungsansprüche und Modernisierungsbedarf – solche schwierigen Themen waren damals an der Tagesordnung. Heinrich Sonsalla gelang bald ein guter Handel. Gewerkschaftsorganisationen hatten Eigentumsansprüche an Teilen der Beimssiedlung angemeldet. Dem neuen Geschäftsführer gelang ein Tauschhandel. Die Wobau gab einen kompletten Siedlungsbestand in Cracau an die BauBeCon und behielt das geschlossene Wohnungsareal in Stadtfeld West. Eine langwierige rechtliche Auseinandersetzung konnte vermieden und Sanierungsinvestitionen in beiden Wohnanlagen schneller umgesetzt werden. Die Erwartungshaltungen der betroffenen Mieter waren hoch. Vielleicht hätten sich bei längerer Wartezeit einige neue Wohnquartiere gesucht.
Eine noch größere Aufgabe stand dem städtischen Unternehmen jedoch noch bevor. Der Bevölkerungsrückgang hielt an. Neben Wegzügen wirkte immer stärker die demografische Entwicklung. Leere Wohnungen waren Zeugnis für ein Wohnungsüberangebot. Welcher Eigentümer trennt sich doch gern von Eigentum? Aber leerstehende Wohnungen kosten auch Geld. Für die Wobau galt, handlungsfähig zu bleiben. In dieser Periode schwor Heinrich Sonsalla das Wohnungsbauunternehmen unter ein Paradigma „Gesundschrumpfen“ ein. Jetzt agierte er als Überzeuger, Vermittler, Lobbyarbeiter zwischen Landes- und Stadtpolitik. Mieter und Mitarbeiter mussten überzeugt und mitgenommen werden. Wer nicht betroffen war, kann die Reibungsenergie dieser Zeit kaum nachempfinden. Das Gesamtvorhaben gelang nur, weil auch andere große Wohnungsgenossenschaften am selben Strang zogen. Heute wachsen auf freien Flächen in Neu Olvenstedt Einfamilienhäuser. An diesen Umbrüchen und Entwicklungen hat Heinrich Sonsalla Stadtgeschichte mitgeschrieben.
Beharrlichkeit, Souveränität und Gelassenheit mögen nötig gewesen sein, um die vielen Fragen dieser Problematik beantworten zu können. Heute existiert die einhellige Meinung, dass der Weg richtig war. Er hat der Wobau und der Stadt gut getan. Ein enger Mitarbeiter sagt über Heinrich Sonsalla: Man könne ihn wie einen souveränen Feldherren sehen, der selbst weiß, wie man ein Schwert führt.
Ziemlich sicher erscheint jedoch, dass man innerhalb von 20 Jahren nie geradlinige Wege gehen kann. Höhen und Tiefen gehören zum Alltagsgeschäft. Um solche Herausforderungen im Inneren ausbalancieren zu können, muss man die Fähigkeit besitzen, über Grenzen hinaussehen zu können. Ein starres Festhalten an bekannten Regeln reicht meistens nicht, um über die Untiefen bewegter Zeiten hinwegzukommen. Ein Entwurzelter – wie sich Sonsalla selbst bezeichnet –, einer, der Brüche hinter sich hat und sich nie an einer Lebensaufgabe allein festhalten konnte, muss wohl in der Lage sein, für einen eigenen Halt zu sorgen. Möglicherweise geben solche Menschen auch anderen Halt. Vielleicht bekam Heinrich Sonsalla bei seiner letzten Betriebsratssitzung deshalb stehenden Beifall von den Mitarbeitervertretern.
Vor ihm liegt jetzt eine neue Grenze: Zum Jahreswechsel gibt er mit 65 Lebensjahren die Geschäftsführung an Peter Lackner ab. Ein Anfang für den Ruhestand wird es nicht sein. „Denken Sie mal nicht, dass ich eine üppige Rente beziehe. Ich habe lange für die Kirche gearbeitet“, sagt Sonsalla. Man erkennt an der Bemerkung, dass er schon weit über die Demarkationslinie Verabschiedung hinausgedacht hat. Zeitenwandel und Veränderung sind für ihn keine Schreckgespenster. Etwas loslassen zu müssen, heißt, etwas anderes annehmen oder anfangen zu können. Leben ist also beständiges Streben nach Halt. Er steht jetzt wieder weiter unten und blickt ein bisschen nach oben, auf andere Entwurzelte oder Verwurzelte und wird ein wenig wissend denken, was jene antreibt. Bei manchem kommt dies aus einem inneren Wesenskern oder eben aus dem eigenen Lebensweg. Das mag eine Gabe von Entwurzelten sein. Deshalb ist Heinrich Sonsalla vielleicht etwas mit der Seele Magdeburgs vergleichbar, die sich trotz aller Entwurzelung durch Zerstörung aus sich selbst heraus stets einen neuen Halt geben konnte.