Die Entwicklung bei Gewalttaten gibt Anlass zur Besorgnis. Wie bedrohlich ist gewalttätige Kriminalität und wo liegen Ursachen? Eine Erklärung von Prof. Dr. Bernhard Bogerts.
Die Zahl der fast täglichen Berichte über hierzulande verübte Gewalttaten lässt schnell vergessen, dass Deutschland sowohl im globalen als auch im europäischen Vergleich ein sicheres Land ist. Die Zahl der Tötungsdelikte liegt mit 0,8 pro 100.000 Einwohner auf einem statistisch niedrigen Niveau im Vergleich von z. B. 4 bis 5-fach höheren Raten in den baltischen Staaten und bis zu 30-fach höheren Quoten an Mord und Totschlag in einigen Regionen Afrikas oder Lateinamerikas. Laut polizeilicher Kriminalstatistik 2015 nahm nach einem Anstieg in früheren Jahren die Gewaltkriminalität insgesamt in den letzten zehn Jahren bundesweit nicht mehr zu. Auch scheint es mittlerweile aus unserem Blickfeld geraten zu sein, dass Deutschland derzeit, wie die meisten europäischen Länder seit Ende des zweiten Weltkrieges, die längste Friedensperiode seit Beginn der Geschichtsschreibung überhaupt erlebt; in einigen Regionen der Erde sieht das anders aus. Zur geschichtlichen Einordnung unserer jetzigen Situation sollte auch erwähnt werden, dass es – wie von Steven Pinker in seinem Buch „Gewalt – eine neue Geschichte der Menschheit“ eindrucksvoll nachgewiesen – in den europäischen Staaten zwischen dem Spätmittelalter und dem 20. Jahrhundert zu einem mehr als 20-fachen (!) Rückgang der Mordquote kam, was mit zahlreichen Verbesserungen der gesellschaftlichen Situation erklärt wurde. Wir leben also derzeit relativ sicher, auch wenn jede einzelne Gewalttat eine zu viel und das Leid der Opfer oft unermesslich ist.
Einige jüngste Entwicklungen in Deutschland und Sachsen-Anhalt geben jedoch Anlass zur Besorgnis: Nach Angaben der mobilen Opferberatung kam es 2015 in Sachsen-Anhalt zu einem Anstieg politisch rechts motivierter Gewalt um ca. 60 Prozent, von ungefähr 130 Gewalttaten jährlich in den Jahren 2010 bis 2014 auf 219 im Jahr 2015. In Magdeburg kam es fast zu einer Vervierfachung rechtsradikaler Taten von 11 im Jahr 2014 auf 42 im Jahr 2015. Zu einem ähnlichen Anstieg kam es in Halle (2014: 19; 2015: 69). Im Vordergrund standen dabei rassistisch motivierte Brandstiftungen und Körperverletzungen. Die Zahlen solcher tätlichen Angriffe sind nach Ansicht der Opferberatung aber nur ein ungefährer Schätzwert bei einem hohen Dunkelfeld, da weniger als die Hälfte aller rassistischen Gewalttaten zur Anzeige kommen.
Sieht man von rechtsradikalen Taten ab, so kam es in Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr zu einem leichten Rückgang der gesamten Gewaltkriminalität, wozu vollendeter oder versuchter Mord oder Totschlag, Körperverletzungsdelikte, Raub und Vergewaltigung gerechnet wird. 2014 waren es 5.274, im vergangenen Jahr 5.211 derartige Taten – das entspricht 2,3 Gewaltdelikten pro 1.000 Einwohner. Die Angst, dass durch den Zustrom von Flüchtlingen auch Gewaltkriminalität ungehindert Einzug halte, lässt sich nach Einschätzung des Innenministeriums nicht begründen; bei einer Versechsfachung der Zahl der Asylsuchenden im Jahr 2015 kam es lediglich zu einer Verdoppelung der von Asylanten verübten Gewalttaten. Der Anteil von Zuwanderern an der Gewaltkriminalität lag 2015 bundesweit bei 8,5 Prozent und wird somit von rechtspopulistischen Stimmungsmachern weit übertrieben. Die von vielen empfundene Zunahme von Gewalttaten ist wohl eher durch eine intensivere Berichterstattung durch die Medien als durch eine tatsächliche Zunahme zu erklären. Neu ist allerdings das Phänomen islamistischen Terrors, von dem unser Land bislang weitgehend verschont blieb, dessen künftige Entwicklung aber abzuwarten bleibt.
Gewalt als Selbstzweck
Gewalttaten sind vorwiegend ein männliches Phänomen; neun von zehn Gewalttaten werden von Männern durchgeführt; die Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen ist weit überproportional häufig vertreten. Im Strafvollzug sind 30 Mal mehr Männer als Frauen wegen einer Körperverletzung inhaftiert. Zu den Ursachen von Gewalt gibt es zahlreiche Theorien. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud sowie der Verhaltensforscher Konrad Lorenz vertraten die Auffassung, dass Aggressivität ein spontan entstehender Trieb sei, der sich immer mehr aufstaue und deshalb in einer möglichst schadlosen Form abzureagieren sei, was Gewalttäter nicht in sozial akzeptabler Weise schaffen. Die Verhaltenstheoretiker Dollard und Bandura meinten dagegen, dass Aggression stets eine Reaktion auf vorangegangene Frustration sei oder durch Imitation erfolgreichen aggressiven Verhaltens von „Vorbildern“ entstehe.
Aggression und Gewalt kann aber nicht nur durch Provokation, soziale Ausgrenzung oder Angriff auf die eigene persönliche Integrität oder Nachahmungsverhalten hervorgerufen werden (sog. reaktive Gewalt); Motive können auch Dominanzstreben, Aneignen fremden Besitzes, Machtgelüste, völkisches Überheblichkeitsdenken oder einfach die Lust an der Unterwerfung oder dem Schaden anderer, somit Gewalt als Selbstzweck sein (proaktive, hedonistische Gewalt).
Die Akteure kollektiver Gewalthandlungen von Gruppen gegen Fremde haben durchaus Gemeinsamkeiten mit unseren nächsten biologischen Verwandten, den Schimpansen. Die Verhaltensforscherin Jane Goodall beschrieb eindrucksvoll, dass Horden erwachsener männlicher Schimpansen regelmäßig die Grenzen ihres Territoriums abstreifen und sobald sie auf eine fremde Affengruppe treffen, diese solange attackieren, bis diese vertrieben ist, wobei es häufig zu tödlichen Auseinandersetzungen kommt. Als humanpsychologische Parallele hierzu konnte der Sozialwissenschaftler Henry Tajfel experimentell nachweisen, dass willkürlich in zwei Gruppen eingeteilte junge Männer spontan zur Überbewertung der eigenen und Abwertung der anderen Gruppen neigten bis hin zu feindseligen Auseinandersetzungen. Die Anlage zur Gruppengewalt gegenüber Andersartigen scheint somit auf einem uralten phylogenetischen Erbe zu beruhen, welches bei Fehlen eines gewissen Grades von Bildung und Zivilisation wieder zu Tag tritt.
Bleibt die Beherrschung unserer angeborenen Anlage zur individuellen und kollektiven Aggressionsbereitschaft gegenüber Andersartigen wegen fehlender Vermittlung moralischer und sozialer Normen in der Erziehung aus, dann ist das Risiko künftiger Gewaltbereitschaft erheblich erhöht. Der gleiche Effekt tritt ein, wenn die Hirnareale, in denen ethisch-moralisches Wissen im Verlauf von Erziehung und Bildung gespeichert wurde und die dadurch aggressives Verhalten kontrollieren, krankhaft gestört sind. Jeder forensisch erfahrene Psychiater weiß, dass Gewalterfahrung oder emotionale Vernachlässigung in der frühen Kindheit einer der stärksten Risikofaktoren für spätere Gewaltdelinquenz des früheren Geschädigten ist. Ein ähnliches Risiko ist bei einem geringen Prozentsatz von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Hirnschädigungen gegeben, bei denen Teile des Stirnhirns oder Schläfenhirns oder des für die Emotionsregulation wichtigen limbischen Systems beeinträchtigt sind. Auch kann die Neigung zu gewalttätigem Verhalten einfach nur ererbt sein; Söhne gewalttätiger Väter werden, auch wenn sie schon als Kleinkinder in einer Adoptivfamilie aufwachsen, häufiger gewalttätig als Söhne nicht strafffälliger Väter. Einige der hierfür verantwortlichen Gene sind bereits identifiziert.
Eine traumatisierende frühe Lebenserfahrung, fehlende Vermittlung ethischer Grundsätze, Hirnerkrankungen und psychische Störungen sowie eine genetische Disposition sind zwar bei vielen, aber nicht bei allen Gewalttätern anzutreffen. Nicht nur die Erfahrungen der Vergangenheit, sondern auch der Blick auf Ereignisse der Gegenwart zeigen, dass gewaltrechtfertigende und verherrlichende Ideologien durchaus auch in einem dafür empfänglichen Normalgehirn die gewaltkontrollierenden Instanzen außer Kraft setzen können. Treffen solche Ideologien auf eine ohnehin schon wegen einer vorbestehenden psychischen Störung gewaltbereite Person, sind die Folgen desaströs.