Gut, guter, am gutesten

45991984_xxlDer Streit um die beste Politik fürs Land ist ein Kampf um gute Wege. Überall Verkündigungen über beste Rezepte. Die Guten sind besser als die anderen Guten. Ich weiß nicht, was daran gut ist.

Von Thomas Wischnewski

Was ist gut für uns? Die Frage stelle ich mir, wenn ich die deutsche Debatte über die Flüchtlingspolitik verfolge. Und dann kommt es mir vor, als zöge mir ein komischer Duft in die Nase. Einer, der einen Brandgeruch trägt. Die Brandstifter sind schon benannt. Sie stehen rechts, weil sie ablehnen, was auf der anderen Seite bestimmt wird. Nur erschüttert mich dabei, dass an unterschiedlichen Fronten jeder auf seine Wahrheit pocht, aber die Suche nach einer gemeinsamen fast schon ausweglos erscheint. Der Brandgeruch rührt von der Reibung der Meinungen her und überzieht das Land mit einem dichten Dunst, der die Wegweiser vernebelt.
Humanismus will ein gutes Wort sein. Unter Menschlichkeit will man Toleranz, Verständnis, Miteinander und Füreinander begreifen. Solche Vorstellungen sollen die Kanzlerin Angela Merkel tragen, wenn sie weder Obergrenzen noch Grenzen ziehen möchte. Seit dem Sommer 2015 betet sie für eine europäische Lösung. Doch der Himmel über dem Kontinent ist längst geteilt. Deutschland hat die Arme für Schutzbedürftige und Hilfesuchende geöffnet und appelliert an die Mitstreiter im Völkerbund, es gleich zu tun. Gemeinsam – so die Proklamation – ist mehr Kraft, mehr Leistung und Gerechtigkeit in der Lastenverteilung. Gerechtigkeit ist auch ein gutes Wort und gerecht ist, was wir selbstgerecht dafür halten. Wer ist der Dirigent im europäischen Orchester? Die erste Geige gibt den Ton an, aber das Zusammenspiel findet keine Harmonie. Ich kann die Kanzlerin verstehen, dass sie am europäischen Projekt hängt. Wahrscheinlich würde das Zusammenstehen in Zukunft noch wichtiger werden, weil die Welt um Europa herum nicht den Eindruck erweckt, ins Gleichgewicht zu kommen. Es mag sein, dass einstige Partner sich der Partnerschaft entziehen, weil sie sich manchmal vom deutschen Wirtschaftswachstum und dessen Hohepriestern fremdbestimmt fühlten. Ich kann nur aus der Ferne sehen und weiß nicht, wie es wirklich ist.
Es klingt zunächst gut, wenn Politiker behaupten, sie wüssten den besten Weg und sie beschritten ihn aus innerer Überzeugung heraus. Doch andere halten mit konträren Ansichten dagegen und verweigern die Gefolgschaft. Im guten Demokratieverständnis sollte man sich an einen Tisch setzen oder in Sälen um Meinungen streiten. Sich gegenseitig auf Defizite in Argumenten aufmerksam machen, darauf kommt es an. Nur funktioniert das nicht, wenn jedem mit Zweifel an der herrschenden Richtung unterstellt wird, ein Nicht-Demokrat zu sein. Das kann nicht gut für die Demokratie sein. Darf sich ein Demokrat Demokrat nennen, wenn er andere aus seinem Demokratieverständnis ausschließt?
Diskussionen dürfen aus unterschiedlichen Standpunkten heraus verbittert, zugespitzt und sogar aggressiv geführt werden. Wichtig ist doch, dass wir sie überhaupt führen. Deshalb weiß ich nicht, ob es gut ist, jemandem von vornherein ein Etikett anzuhaften, das ihn vom Gespräch ausschließt. Wer nicht diskutiert, steigt von der demokratischen Bühne.
Ich vernehme immer häufiger verbale Entgleisungen. Das schmerzt in meinen Ohren. Die Sphäre einer inhaltlichen Auseinandersetzung war von Anfang an vergiftet. Keine Partnerschaft zerbricht allein an Schuld und Verweigerung einer Seite. Sogar junge Menschen wissen schon, dass Konflikte mindestens aus zwei Quellen gespeist werden. Ich mag solche, wie die Höckes mit ihren einfachen Antworten und Untergangsprophezeiungen nicht, ernte aber von anderen Seiten auch keine Alternative für den Glauben an Lösungen. Möglicherweise schlagen sich aus reiner Meinungsverdichtung welche auf die eine und manche auf die andere Seite der Frontlinie. Die bisher angeblich in sich ruhende Mitte verliert ihre Mitläufer. Offensichtlich sind derzeit jene auf dem Vormarsch, die laut genug schreien können.
Ist es wirklich gut, dass wir ausschließlich die Ankunft von über einer Million Menschen – ob nun berechtigt oder unberechtigt als Flüchtlinge bezeichnet – allein als Anlass begreifen wollen, was in Deutschland geschieht? Die deutsche und europäische Gemeinschaft – ganz zu schweigen von der Weltgemeinschaft – hat in zurückliegenden Jahren an sozialer Balance verloren. Es mag gut klingen, wenn Nachrichten über deutsches Wirtschaftswachstum anzeigen, dass mit derzeit über 43 Millionen sozialversicherungspflichtigen Jobs ein Trend zu mehr Beschäftigung sichtbar wird. Trotzdem driftet die Kluft zwischen mehr Menschen in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen sowie Wenigen mit steigenden Vermögen weiter auseinander. Probleme und Ursachen lassen sich jetzt so schön verkürzt auf das Flüchtlingsthema reduzieren. Insofern halte ich die Losungen politischer Gegenspieler für kein Deut besser als die Kanzlerin-Platitüde „Wir schaffen das“.
Es ist gut, wenn wir die Welt durchschauen. Aber wissen wir wirklich, was auf dem Erdball 7,4 Milliarden Menschen umtreibt? Mehr und mehr habe ich den Eindruck, wir reden uns die Welt da draußen zurecht und uns selbst große Träume ein. Vielleicht haben wir uns diese Illusionen einreden lassen, weil Politikerreden über TV-Bildschirme flimmern, in denen so schön einfach erklärt ist, wie alles werden würde. Ich kann die Hand für meinen Nachbarn nicht ins Feuer legen. Wissen Sie, was der Bewohner nebenan, hinter verschlossen Türen treibt? Kaum jemand weiß das. Aber offensichtlich wissen alle, wie über sieben Milliarden Menschen ticken und was sie umtreibt, was sie uns Gutes und Böses wollen.
Ich vergaß, die Guten, das sind doch wir. Wenn alle nur so fleißig und strebsam wie die Deutschen wären – ja klar, dann wäre die Welt gut, aber auf jeden Fall besser. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erzählten mir kluge Köpfe über zunehmende Verteilungskämpfe der Zukunft. Damals beherbergte die Erde noch nicht einmal vier Milliarden Menschen. Mit rasanten Schritten bewegen wir uns auf die Verdopplung dieser Zahl zu. Bin ich jetzt zurück in der Zukunft? Das verordnete Rezept heißt Wachstum. Von jeder Kanzel wird es gepredigt. Alles, was oft genug wiederholt ist, wird geglaubt. Für manchen ist das sogar schon Wahrheit. 1970 meinte man auch schon, dass die Erde nicht über ausreichend Ressourcen verfügt, um vier Milliarden Menschen ein Auto zur Verfügung zu stellen. 2010 überschritt der Weltbestand an Fahrzeugen die Eine-Milliarde-Marke. Wollte man alle Produkte, die für uns heute selbstverständliche Lebensbegleiter sind nur annähernd weltweit zur Verfügung stellen, wird klar, dass jeder Gewinn für Menschen ein unwiederbringlicher Verlust an Rohstoffen und Natur sein würde. Aber Märkte müssen weiter erobert werden. Ach so, heute sagt man das friedfertig: Märkte werden erschlossen. Das Heilmittel der Welt: mehr Märkte, mehr Konsum, mehr Produkte, schneller und effizienter produzieren. Es könnte gut sein, den Grünen zuzujubeln, weil die sich so vehement für die Umwelt ins Zeug legen. Doch dann steht deren Fraktionschef im Bundestag, Anton Hofreiter, in Halle an der Saale und stimmt das schöne Lied vom notwendigen, wichtigen und wahren Umweltschutz an. Drei Sätze später spricht er über seine Reiselust durch die Welt. Wie war das mit der Glaubwürdigkeit, wenn einer Wasser predigt aber Wein trinkt? Guter Rat ist teuer, aber Antworten, die gegeben werden sind häufig billig.
Wir sind schon gute Menschen. Noch ein Vergleich: Kennen Sie die Osterinseln im Südpazifik? Ich habe nur über sie gelesen und weiß nicht, was an deren erforschten Geschichte wahr ist und was Interpretation. Heute will man wissen, dass die Bewohner die Insel wahrscheinlich im 14. Jahrhundert radikal entwaldet haben. Vermutlich brauchten sie das Holz der Palmenwälder dringend. Jeder hatte einen sehr vernünftigen und wichtigen Grund, warum es ohne das Holz nicht gegangen wäre. Jede Begründung blieb so lange wichtig, bis kein Baum mehr da war. Ist der Vergleich mit der Osterinsel und unserem Verhalten auf der Erde abwegig? Jeder von uns kann unabwendbare Bedingungen und Ursachen benennen, warum gerade dieses oder jenes getan werden müsste. Es ist nicht die Handlung eines Einzelnen, sondern die Summe der Taten aller, die starke Veränderungen sichtbar machen. Und weil sich jeder wundervoll hinter allen verstecken kann, will niemand für die Missetaten auf dieser Welt verantwortlich sein. Ich natürlich auch nicht. Ich kann wie jeder sogar gut mit dem Finger auf andere Schuldige zeigen und selbst meine Hände in Unschuld waschen. Ein Fingerzeig ändert nichts. Ein Papst mag mahnen. Doch was nutzt das, wenn jeder nach seiner vermeintlich guten Fasson lebt.
Seit der Zeit der Aufklärung wachsen wir in Europa unter Vermittlung humanistischer Werte auf. Zwölf Jahre Faschismus mit Krieg, Zerstörung und menschenverachtender Vernichtung konnten dennoch nicht verhindert werden. Als Deutschland 2015 Willkommenskultur demonstrierte, war das Weltbild in Ordnung. Wie humanistisch gut regiert agieren wir gegenüber anderen Nationen? Schreckensherrschern und Feinden unserer Freiheit zeigen wir die Folterinstrumente. Westliche Werte werden mit Sanktionen verteidigt. Die Achse des Bösen muss mit Gewehren der Demokratie erschossen werden. Der Iran – ges-tern noch auf der Achse des Bösen wohnend – hat das Atomabkommen erfüllt. Jetzt werden die Mullahs von der Wertegemeinschaft wieder herzlich umarmt. Der lupenreine Demokrat Wladimir Putin ist höchst regierungsoffiziell eher ein freiheitsabgewandter Diktator und muss mit Handelsboykott belegt werden. Welche guten Restriktionen solchen politischen Initiativen innewohnen, die vor allem Menschen in den betroffenen Nationen treffen und sogar Unternehmen hierzulande, muss hinter das Gute zurücktreten. Weltoffenheit und Toleranz fordern wir im Innern, doch wie weltoffen und tolerant geben wir uns in der Welt?
Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn bald wieder Grenzzäune errichtet sein werden. Man kann daran sicher viele zurückweisen. Nur Terroristen haben sich noch nie von Grenzen abhalten lassen. Prediger einer Apokalypse gab es schon immer. In unsicheren Zeiten haben sie Hochkonjunktur. Ins gute Jammern über den Verfall von Deutschland mag ich nicht einstimmen. Verfall sehe ich vor allem in solchen Wohnstuben, in denen man sich vor den TV-Altaren im Geiste zerfetzt und der Herzinfakt-Rate Vorschub leistet. Eine Alles-wird-gut-Heuchelei von Toleranz-Diktatoren ist mir genauso wertvoll wie die Prophezeiungen  der Untergangsapologeten mit hypernationaler Angststörung.
Unser Land könnte am Anfang des 21. Jahrhunderts wiedervereint in einer ausgesprochen guten Verfassung erscheinen. Millionen Bürger haben die Trümmer des 2. Weltkrieges nicht liegen gelassen, haben angepackt und aufgebaut. Im deutschen Selbstverständnis war das viel mehr als nur etwas Gutes. Noch besser mögen wir uns zur Überwindung der Teilung auf die Schulter klopfen, selbst wenn im Westen manches besser und im Osten noch mehr billig ist. Die guten Deutschen – solche, die den Nationalstolz betonen – wollen jetzt endlich in Europa mit erhobenem Haupt dastehen, weil sie seit der Schmach des Holocausts mit Demut und ständiger Entschuldigung durch die Welt gingen. Wahrscheinlich bin ich diesbezüglich nicht gut gewesen. Weil ich die Schuld der Täter nicht mit mir verbunden habe. Ich will doch besser sein. Nach mittlerweile fünf Lebensjahrzehnten ist mir die devote deutsche Haltung selten begegnet. Lümmeln nicht viele gute, selbstbewusste Deutsche an sonnigen Urlaubsstränden herum und genießen die gute Zeit des Lebens.
Es ist Wahlkampf. Politik tönt deshalb besonders laut. Gegenseitig zeigt man mit Fingern auf sich, auf den anderen, den vermeintlich Schlechten. Erst sind die einen besorgte Bürger mit Angst, jetzt haben die anderen Angst um Mandatsverluste. Wer den Meinungsaustausch mit Menschen scheut, kann keine guten Argumente haben. Jedenfalls reicht es nicht darauf zu pochen, aber nicht darüber zu streiten. Der Disput kommt jetzt mehr und mehr in Gang, leider etwas spät und oft nach wie vor aus dem schlichten Selbstverständnis heraus, selbst besser zu sein als ein anderer. Demokratie hält Streit aus und in ihr muss gestritten werden. Auf feste Standpunkte trifft man oft an Kreuzungen ohne Wegweiser.
Die Zukunft liegt immer im Nebel und nie in Sta- tistiken. Furchtlose sollen im Nebel vorangehen und für andere den Weg erkunden. Sie stellen sich zur Wahl und müssen dann an die Spitze. Richtungen werden nicht allein vom Kopf aus – also von den guten Gedanken – bestimmt, sondern auch durch die Beschaffenheit eines Weges. Ein Weg ist weder gut, noch schlecht. Was leicht war, wird schwer und Probleme verkehren sich ins Gegenteil. Jeder Weg ist nur ein Weg. Was daran gut, was guter oder gar am gutesten ist, ich weiß es nicht.