Hoffnung ist immer …

schoenebeckEin Spaziergang durch Schönebeck und manch vage Schlussfolgerungen über die Leere am Markt.

Von Thomas Wischnewski

Hoffnung ist immer. Jetzt fühle ich mich davon besonders beseelt. Der Frühling zeigt sein Erwachen.

Bäume und Büsche lassen grüne Spitzen aus ihren Knospen brechen. Die Wiese an der Elbe liegt wie ein junger sattgrüner Teppich. Die Natur duftet nach Hoffnung und es ist sonnig an diesem Mittwochnachmittag. Ich lenke meine Schritte auf den Marktplatz. Es müssten Menschen unterwegs sein, auf dem Heimweg, Einkäufe erledigen, Geschäfte aufsuchen, Bekannte treffen oder so wie ich spazieren gehen. Doch hier ist nur Leere. Das Areal hat sich herausgeputzt mit frisch verlegtem Pflaster und sauberen Hausfassaden. Gegenüber vom Rathaus befindet sich ein Café. Ich möchte gern einkehren. Aber es sitzt niemand drin. Ein verlassenes Gasthaus ist keine frohe Einladung. Wenn nur die Leere nicht wäre. Das macht mich nachdenklich.
Schönebecks Ortszentrum ist wie ausgestorben. Belebte Fußgängerzone? Fehlanzeige. Durch die Fensterscheiben eines kleines Reisebüros sehe ich eine Frau am Schreibtisch. Ihr Augen blicken starr auf den Computerbildschirm. Sie ist wie die Stimmung draußen. Im Geschäft nebenan werden dekorative Wohnaccessoires feilgeboten. Nur Kunden gibt es keine. Das Servicecenter einer Krankenkasse bleibt Mittwochnachmittag stets geschlossen. An anderen Schaufenstern steht „Zu vermieten“. Wo sind die Menschen? Plötzlich bekomme ich eine Ahnung davon, dass hier an allem irgendwie der Lauf der Dinge klebt.

An Schönebecks menschenleerer Mitte kleben womöglich Etiketten wie Globalisierung, demografischer Wandel, Digitalisierung und Individualisierung. Aber wo wohnt die Hoffnung? 1950 zählte die Stadt über 46.000 Einwohner. Heute sind es noch gut 31.000. In die Gesamtzahl sind auch die Leute aus eingemeindeten Orten der Umgebung eingerechnet. Arbeit, die hier einst erledigt wurde, scheint ausgewandert. In den Westen. Vielleicht ins große Europa oder irgendwohin in die Welt. Der Salzbergbau ist schon lange Geschichte. Seit den 60er Jahren wurden im Traktorenwerk Schönebeck Zugtraktoren sowie Feldhäcksler gebaut. Der Traktorenbau musste nach mehreren Fehlschlägen mit westdeutschen Lizenznahmen eingestellt werden. Bis Mitte der 1990er Jahre existierte ein Dieselmotorenwerk. Mittlerweile ist es demontiert und abgebrochen. Mindestens 10.000 Industriearbeitsplätze hat die Geschichte verschluckt oder eben die Globalisierung.
Hoffnung ist immer, denke ich wieder. Heute gibt es einen Produktionsstandort der ThyssenKrupp Presta AG zur Herstellung von Lenksystemen. Die Automobilzulieferindustrie war ein Hoffnungsschimmer. Marode Betriebe mussten sterben. Mussten? Die Arbeit wird anderenorts erledigt. Gekommen sind dafür Fördermittel für den Aufbau Ost. Sicher. Für den Stadtumbau, für Sanierung und Modernisierung.

Wer jung ist, risikobereit und neugierig sucht sein Lebensglück an einem anderen Ort. Glück wird heute ohnehin anders definiert als zur Zeit meines Großvaters. Der war schon froh, wenn die Mäuler der Kinder mit dem Nötigsten gestopft waren. Die Wohnungen rund um den Marktplatz sind bewohnt. Nur wenige stehen wohl leer. Man lebt offensichtlich zurückgezogener. Das Glück flimmert hinter Hauswänden. Die Deutschen sitzen gern vor dem Fernseher. Im Durchschnitt 223 Minuten am Tag. Möglicherweise gibt es in Schönebeck besonders viele TV-Fans. Oder tüfteln die Leute hier bereits an einer digitalen Zukunft? Vielleicht arbeiten in den Häusern lauter Programmierer und ich stehe mitten in der Keimzelle eines sachsen-anhaltischen Silicon Valley. Oder lassen sich viele doch nur von Datenmonstern wie Facebook & Co. die Lebenszeit wegfressen?  Man trifft sich ja heute lieber im Smartphone oder im PC. Ich denke, wie perfide man den Namen „iPhone“ weiterspinnen könnte. Englisch „i“ wie „ich“. Das Ich-Phone oder wie die eigene Persönlichkeit in Speicherchips wächst und dann in sogenannte Clouds aufsteigt. Ja, Digitalisierung hat irgendwie etwas von Persönlichkeitserweiterung. Jeder hat die Möglichkeit, in die ganze Welt zu schauen. Superstars, Propheten und Traumpartner scheinen zum Greifen nah. Man will deren Botschaften empfangen, sich mit ihnen verbinden. Selbst Gefühle, die tiefen, inneren Regungen holt man sich verheißungsvoll aus dem Computer. Transformiert sich das Leben langsam in Datenströme? Hoffnung wird heute programmiert, steckt in Bits und Bytes. Offensichtlich glaubt eine wachsende Mehrheit daran.

Die Hoffnung des Glaubens trug man früher unters Kirchendach, um mit Gott ins Gespräch zu kommen. Selbst die Götter wandeln heute über Bildschirme. Man muss deshalb seltener vor die Tür treten. Bequemlichkeit ist der moderne Luxus. Außerdem ist das besser. Denn draußen drohen überall Gefahren. Jedenfalls schreit das fortlaufend aus dem Internet. Je mehr es dort sagen, umso wahrer wird wohl die „Wahrheit“. Virtuell kann man sich unkompliziert und schnell treffen, übers Wetter reden oder Frust ablassen. Das befreit ungemein, auch von wahren Freunden. Ich kann das verstehen. Da hier kaum jemand auf die Straße geht, wie soll man sich auch begegnen? Vor dem Discounter in einer anderen Straße reden zwei alte Frauen mit einem grauhaarigen Mann. Mein Russisch habe ich über die Jahre verloren. Deshalb verstehe ich nicht, was sie sagen. Was man nicht übt, verschwindet. Die Hoffnung, die einst gelernte Sprache wieder aufzufrischen, habe ich noch nicht aufgegeben.

Jugend ist Hoffnung, weil sie das Leben weiterträgt, weil junge Generationen alte Zöpfe abschneiden und Dinge anders machen. Wo sind die jungen Menschen? Mir begegnen schließlich noch ein paar Passanten. Ein Mitte 50er, der seinen Schäferhund an der Leine führt. Der nächste Fußgänger ist nicht jünger, eher älter. Auch der trottet mit seinem Vierbeiner über die Straße. Wer ein Haustier hat, muss raus. Vielleicht ist das wie eine selbst verordnete Therapie. Man schafft sich einen Zwangsgrund, um den Fuß vor die Tür zu setzen. Gibt es einen anderen?  Im demografischen Wandel stec-ken Möglichkeiten. So proklamieren es Optimisten seit Jahren. Wo sind die Chancen in Schönebeck? Ich will glauben, dass immer Hoffnung ist.

In Magdeburg sieht alles anders aus. 200.000 Einwohner mehr als Schönebeck. Das ist eine Schwungmasse, die man sehen kann. Aber ich erinnere mich auch an meine letzten Schuljahre, Anfang der 80er. Zur selben Nachmittagsstunde wälzten sich damals Menschenmassen über die Kreuzung Breiter Weg/ Ernst-Reuter-Allee. Magdeburg hatte in dieser Zeit über 50.000 Einwohner mehr als jetzt. Heute erregt man sich über ein mit Menschen überfülltes Einkaufscenter. Das wirkt aber nur so voll, weil die Flucht zwischen den Läden schmal ist. Planer wissen, wie man urbane Atmosphäre schafft. In Magdeburg ist der Marktplatz unter das Dach eines privaten Konsumtempels gestellt worden. Wer den Breiten Weg weiter nach Norden oder Süden entlangschlendert, dem fällt das Zählen von Passanten nicht sonderlich schwer. Trotzdem ist die Landeshauptstadt weit entfernt von der Schönebecker Leere, weniger an Kilometern als wegen der Einwohnerzahl. Auch künftig wird sich hier keine triste Kleinstadtstimmung verbreiten. Dafür sorgt die Anziehungskraft der Größe. Wo viele Menschen sind, gibt es mehr zu tun. Da wohnen Hoffnungen und Möglichkeiten. Deshalb ist Magdeburg auch ein Magnet und zieht junge Menschen an. Vor allem solche aus den nahen Dörfern und Kleinstädten. Es kommen aber auch andere. Gommerns Bürgermeister Jens Hühnerbein sorgt sich seit Jahren um den wachsenden Leerstand in den dörflichen Ortschaften. Es packen nämlich dort viele ältere Menschen ihre Koffer. Sie geben Haus und Hof auf, weil die Bewirtschaftung mit steigendem Lebensalter beschwerlicher wird. Außerdem ist die Gesundheitsversorgung in Magdeburg viel attraktiver. Uniklinik, Krankenhaus, Fachärzte – das dichte Netz vermittelt Sicherheit. Auf dem Land wollen sich kaum noch Hausärzte niederlassen. Wenn die Patienten weit sind und die Fläche dünn besiedelt, ist es schwerer, an einen guten Verdienst zu kommen und die langen Wege sind unbequem.

Gott sei Dank muss heute niemand etwas tun, was nicht gewollt ist. Ein Job soll maßgeschneidert sein und zur eigenen Persönlichkeit passen. Selbstverwirklichung sagt man dazu. Ein wenig klingt das, als wäre ein Mensch spätestens mit 18 Jahren fertig und dann würden sich Arbeit und Aufgaben an die jeweils individuellen Lebensvorstellungen anpassen. Zum Leben gehören Mut und Risikobereitschaft. Herausforderungen muss man annehmen, damit etwas Neues entstehen kann. Greift eine Bevölkerung, deren durchschnittliches Lebensalter wächst, noch nach einer unbekannten Zukunft? Was wird aus einer Gemeinschaft wie der unseren, bei deren Mitgliedern die Zukunft von einer wachsenden Vergangenheit überwuchert wird? Besteht Ansteckungsgefahr, sodass trostlose Stimmungen der vielen Alten auf die weniger werdenden Jungen übergeht? Hoffnung und Zukunft sind eng miteinander verwobene Begriffe. Schwindet die Hoffnung, wenn sich Zukunft verflüchtigt?

Es geht gar nicht nur um Schönebeck, sondern um die Menschen und das Leben in ländlichen Gebieten. Schönebeck ist ein Beispiel. In Staßfurt, Wolmirstedt, Wanzleben und Oschersleben würde man bei einem Spaziergang auf ähnliche Gedanken kommen. Das Erlebnis ist wie der Badewanneneffekt: Lange erscheint eine Wanne voll, aber plötzlich reist ein Strudel die letzte Wassermenge mit rasender Geschwindigkeit in den Abfluss. Wir nehmen Entwicklungen und Probleme oft erst dann richtig wahr, wenn die sichtbaren Belege so massiv sind, dass sie nicht mehr aus dem Blickfeld geraten. Erst dann suchen wir nach Ursachen und Verantwortung. Andere werden mit Schuld beladen. Aber sehen wir auch den eigenen Anteil? Das Leben wird so, wie wir uns mehrheitlich verhalten. Je mehr Menschen sich zurückziehen, umso weniger wird Lebensvielfalt sichtbar und Chancen lösen sich auf. Sich auf einen Weg machen, ist auch ein Ausdruck dafür, Hoffnungen entstehen zu lassen. Denn Hoffnung ist immer … Hoffentlich.