Ich bin ein langsamer Leser – Mauern bauen können wir noch

schumannMeine Frau erzählte mir von einem Telefonat mit einem früheren Arbeitskollegen, Berufsschullehrer. Er war kürzlich mit seinen Enkelkindern unterwegs. Ein Regenschauer überraschte sie. Sie stellten sich im Schutz eines Baumes unter, aber der Regen kam in solcher Stärke, dass die Blätter nichts mehr abhielten. Die Enkel froren. Der Großvater sorgte sich, dass sie sich nicht verkühlten. Später stiegen sie aus den nassen Sachen. Im Fernsehen gab es Nachrichtenbilder mit Flüchtlingen an der mazedonischen Grenze. Schlamm. Regen. Anderntags erzählte er die Geschichte seinen Lehrlingen in der Schule. Mitgefühl – Fehlanzeige. Die haben kein trockenes Zeug, sagte er. Was ist, wenn die Kinder krank werden? Schulterzucken. Hat ihnen keiner gesagt, dass sie hierher kommen sollen. Als die Jesidin Semi Hudedo aus dem Sindschar-Gebirge geflohen war, erzählt sie von der Flucht vor dem IS: Sie sah eine Frau, die ein Mädchen und einen Jungen trug, bis sie nicht mehr konnte. „Sie hat das Mädchen abgesetzt und ist mit dem Jungen weiter. Welche Angst müssen Menschen haben, dass Mütter ihre Kinder zurücklassen?“ Keine Regung. Nur Unverständnis für die Mutter. Im Libanon können 320.000 syrische Kinder keine Schule besuchen. Im überforderten Libanon kommt auf drei Einwohner ein Geflüchteter. Diese Generation syrischer Kinder wird eine verlorene Generation sein. Auf dem libanesischen Arbeitsmarkt gilt inzwischen, was Kinderarbeit zusätzlich attraktiv macht: Zwei arbeitende Kinder schaffen den Lohn eines Erwachsenen heran. Vor dem Bürgerkrieg gehörte Syrien zu den wenigen arabischen Staaten mit vorbildlichem Bildungssystem, staatlichem Gesundheitssystem und man lebte in Akzeptanz aller Religionen und Ethnien. Jordanien hat inzwischen offiziell 600.000 Geflüchtete aufgenommen, vermutlich sind es mehr. Warum erzähle ich das? Der österreichische Bundeskanzler Kern drückt auf die rechtsorientierte Sprachschraube und macht deutlich, dass der Flüchtlingspakt mit der Türkei einen Plan B braucht. Der Pakt würde nicht halten, wenn die EU, was sie seiner Meinung nach sollte, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbricht. Der Sozialdemokrat baut vor. Schließlich möchte man die erneute Präsidentenwahl nicht den Rechtskonservativen überlassen. Verliert eine sozialdemokratische Partei nicht, wenn sie ihre sozialen Maxime rechtspopulistischen Parolen opfert? Noch schlimmer der österreichische Verteidigungsminister, der Sozialdemokrat Hans Peter Doskozil: Der Deal mit der Türkei sei „ein Zeitfenster für Europa. Es bedarf einer effektiven Außenschutzgrenzsicherung.“ Zu gut deutsch: Wir schießen nicht mehr auf Flüchtlinge, die die DDR, pardon Europa verlassen wollen, sondern auf die, die hereinwollen. So haben die Sozialdemokraten (Österreichs) dem Rechtspopulisten (das ist eher eine Salonbezeichnung) Viktor Orbán zugesagt, ihm bei der Sicherung des Grenzzauns nach Serbien zu helfen. Es seien bereits österreichische Polizisten (einer sozialdemokratischen Regierung, man kann das gar nicht oft genug wiederholen) an der ungarisch-serbischen Grenze eingesetzt. Pardon, darf man mal nachfragen, was ein Land mit diesem Erdogan-Ableger als Minis- terpräsident in der EU zu suchen hat? Ich bin ja ein langsamer Leser. Deswegen sei mir gestattet, auf einen April-Artikel des Magazins „Cicero“ zu verweisen: „Vor kurzem hat Barack Obama Libyen als schlimmsten Fehler seiner Amtszeit bezeichnet. Das ist sicher nicht falsch. Der Sturz Gaddafis ohne Plan für die Zeit danach erweist sich als eine Ursache für den Flächenbrand in der Region.“ So beginnt der Artikel „Der Fall Assad“ von Christoph Schwennecke. Wobei dasselbe Muster seit dem zweiten Irakkrieg gilt. Schwennecke zitiert den Pulitzer-Preisträger Seymour M. Hersh, jenen Journalisten, der für die Aufdeckung der Kriegsverbrechen von My Lai (Vietnam) und Abu Ghuraib (Irak) federführend war. Hersh, der mit führenden Militärs und Politikern gesprochen hat, sagte bereits 2007, dass die Regierung Bush plante, sowohl die iranische Regierung zu destabilisieren als auch Syriens Diktator Assad zu stürzen. Der syrische Bürgerkrieg ist ein von außen gesteuerter, nie erklärter Krieg jener Nation, die Werte wie Demokratie und Menschenrechte permanent im Mund führt. Selbst der ehemalige Botschafter Indiens in Syrien, V. P. Haran, bestätigte Hershs These, dass Assad im eigenen Volk keine militante Opposition zu fürchten hatte. Der syrische Dichter Adonis wies in einem Spiegel-Interview darauf hin, dass es in einem Bürgerkrieg einer Befreiungsfront nicht darum gehen könne, das Land so zerstören zu lassen, wie es die so genannten Rebellen in Syrien tun. Haran auf die Frage: „Was war Syrien, als Sie im Januar 2009 dort ankamen?“, „Syrien war ein friedvolles Land … Das Problem war die Dürre im Nordosten, die zu einer massiven Umsiedlung in den Süden und den Südwesten geführt hatte.“ Haran verweist darauf, dass Syriens Probleme „aus ausländischen Quellen“ stammen. Mit den Erfolgen der syrischen Armee, die diese mit Hilfe schiitischer Milizen aus dem Libanon und aus dem Iran sowie russischer Luftstreitkräfte errang, verschwindet in der EU und in den USA der Ruf nach Assads Ablösung. Der Strom der Geflüchteten, so scheint es, hat ein Umdenken eingeleitet. Die Friedensgespräche sind tot. Die verschiedenen Rebellenformationen spielten die Rolle der nützlichen Idioten. Man hat in Washington und Brüssel begriffen, dass Assads Sieg das kleinere Übel ist, bevor sich Menschen von Damaskus und anderen Städten ebenfalls auf den Weg nach Westeuropa machten – und dass man nur mit Assad die Einheit Syriens wahren kann. Sicher nicht zur Freude der Kurden, die man als Bodentruppen gegen den IS missbrauchte. Ein Scheißspiel. Die Zäune werden höher. Interessanterweise in Mazedonien. Griechenland ist offensichtlich optisch raus aus der EU. Wir haben die Mauer wieder. Ein bisschen weiter weg. Aber sie ist da. Über kurz oder lang wird man sie mit Selbstschussanlagen optimieren. Die Umstände zwingen uns dazu. Diesmal stehen die „Wir-sind-das-Volk!“-Schreier hinter der Mauer, um sicher zu sein, dass sich die Investition lohnte. Syrien, hat man errechnet, wird im günstigsten Fall 30 Jahre brauchen, ehe es den Lebensstandard von 2010 erreicht. Vielleicht, wenn nun Pontius Obama seine Hände in Unschuld wäscht, werden sie in 30 Jahren rein. Falls ihm die Kinder Syriens vergeben. Und uns Mauerbauern. Mauern bauen – wahrscheinlich ein Handwerk, das wir beherrschen.