Kaum Veränderung

spezial_titelBarrierefreies Magdeburg? Der Jahresbericht des
Behindertenbeauftragten der Stadt zeigt, dass noch viel getan werden muss …

Von Tina Heinz

Eine junge Frau, begleitet von ihrem Blindenhund, sucht an einem Haus im Breiten Weg den Eingang. Mehrere Türen stehen zur Auswahl, es lassen sich jedoch nicht alle öffnen. Sie tastet sich an der Glasfront entlang. Etliche Menschen gehen vorbei, manche stehen an der Straßenbahnhaltestelle und schauen aus der Entfernung zu. Hilfe? Fehlanzeige.
Woran liegt es, dass viele die Begegnung mit behinderten Menschen scheuen? Wissen wir nicht, wie wir uns in solch einer Situation verhalten sollen? Geht es uns nichts an? Könnten nicht auch wir eines Tages von einer Behinderung betroffen sein? Blind oder gehörlos durch einen Unfall oder eine Erkrankung … Bewegungseingeschränkt im fortgeschrittenen Alter… Solange wir gesund und fit sind, schieben wir derlei Gedanken weg.
Natürlich soll man nicht alle über den sprichwörtlichen Kamm scheren. Es gibt viele Menschen, die in bestimmten Situationen helfen. Menschen, die sich in ihrer Freizeit engagieren. Und auch Menschen, die hauptamtlich damit betraut sind, Unterstützung zu leisten – Hans-Peter Pisch-ner, beispielsweise. Er ist der Behindertenbeauftragte der Stadt Magdeburg, vertritt die Interessen der Menschen mit Handicap gegenüber politischen Gremien, ist Ansprechpartner für die betroffenen Personen, ihre Angehörigen sowie für Verbände, Vereine und Selbsthilfegruppen. Er berät die Stadtverwaltung und ist um die Verbesserung der Barrierefreiheit in der Stadt sowie den Erhalt einer verlässlichen sozialen Infrastruktur bemüht. Jedes Jahr liefert Hans-Peter Pischner einen Bericht zur Situation der Menschen mit Behinderungen in Magdeburg.
„Kaum Veränderungen“ in der Landeshauptstadt  konstatiert er im aktuellen Jahresbericht. Sehr positiv klingt das zunächst nicht – ein Hauch von „Stillstand“ schwingt in dieser Botschaft mit. Kleine Fortschritte waren es, die 2014 in Sachen Barrierefreiheit erzielt wurden. So wurden etwa die Gebäude der Förderschule für Sprache „Anne Frank“, der Grundschule „Stadtfeld“ und der Sporthalle Buckau barrierefrei gestaltet. Auch der fertiggestellte „Katharinenturm“ erfüllt laut Jahresbericht wesentliche Anforderungen an die Barrierefreiheit – um nur einige Beispiele zu nennen. Kritik gibt es von der städtischen Arbeitsgruppe „Menschen mit Behinderungen“ am Zustand wichtiger Gebäude wie dem Ärztehaus Am Tränsberg. Zwei Stufen erschweren Menschen mit Rollstuhl, Rollator oder Krücken dort den Zugang. Eine Lösung zu finden, scheitere laut Hans-Peter Pischner vor allem daran, dass die Eigentümer nicht bereit seien, die Kosten zu tragen.
Auch die Wohnungssituation in Magdeburg lässt noch zu wünschen übrig. Der Behindertenbeauftragte weist darauf hin, dass es zu wenig ausreichend große und bezahlbare Wohnungen gibt. Bei Neubauten sieht er dabei keine Probleme, doch im Falle der Sanierung von älteren Bauten gelingt eine barrierefreie Gestaltung oft nur mit Abstrichen. Denn zu barrierefreiem Wohnraum gehören neben dem ebenerdigen Zugang zum Hausflur und einem Aufzug auch große Räume und angepasste Toiletten, Waschbecken, Duschkabinen etc.
Auch mit Blick auf den öffentlichen Nahverkehr und die Straßen sieht Hans-Peter Pischner Defizite. Zwar wurden beispielsweise die Haltestellen am Zoo, in der Otto-von-Guericke-Straße oder am Dom barrierefrei umgebaut, doch eine Vielzahl von Haltestellen ist noch nicht behindertengerecht gestaltet. 86 von etwa 260 Straßenbahnhaltestellen werden als barrierefrei eingestuft. Dazu zählen nicht nur die Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten für mobilitätseingeschränkte Menschen. Als zusätzliche Hilfe für Menschen mit Sehbehinderung gibt es in etlichen Großstädten an Haltestellen automatisierte Lautsprecheransagen, die Auskunft darüber geben, welche Linie wohin fährt. Das wäre auch für Magdeburg wünschenswert. Ebenso sinnvoll wäre eine barrierefreie Auskunft über die Fahrpläne im Internet oder als App.
Für Blinde und stark sehbehinderte Menschen stellt die Bewegung im öffentlichen Raum eine Herausforderung dar. Vernünftig nutzbare Leitstreifen, an denen man sich orientieren kann, sind in Magdeburg eine Rarität, wenn man von den Straßenbahnhaltestellen der MVB und einigen wenigen auf dem Hauptbahnhof absieht, schreibt der Behindertenbeauftragte. Auch Kreuzungen und Übergänge sind nicht ausreichend mit Tonsignalen ausgestattet. Nur an 104 von 235 Ampeln ist es Menschen mit Sehbehinderungen möglich, die Straße ohne Hilfe zu überqueren. Diese Zahl hat sich im Vergleich zum Vorjahr nicht geändert. Stillstand also. Doch dieser verhindert eben nicht das Erreichen gewisser Barrieren …

Daten, Fakten & Tipps:

Mehr als 17.000 Menschen mit schwerer Behinderung

Nach Angaben des Statistischen Landesamtes leben in Magdeburg 17.311 Menschen – davon 8.272 Männer und 9.039 Frauen – mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Die bei der Erhebung ermittelten Arten von Behinderungen werden in neun Gruppen gegliedert. Demnach leiden 28,3 % der Magdeburger mit schwerer Behinderung unter einer Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen/Organsystemen und 22,1 % unter Querschnittslähmung, zerebralen Störungen, geistigseelischen Behinderungen oder Suchtkrankheiten. 11,2 % sind von Funktionseinschränkung der Gliedmaßen, 9,1 % von der Funktionseinschränkung der Wirbelsäule und des Rumpfes und der Deformierung des Brustkorbes betroffen. Bei 7,4 % wurden Blindheit und Sehbehinderung und bei 5 % Sprach-/Sprechstörungen, Schwerhörigkeit und Gleichgewichtsstörungen festgestellt. 4,9 % sind vom Verlust der Brüste, Entstellungen u.a. betroffen. 1,3 % leiden unter dem Verlust/Teilverlust von Gliedmaßen und 10,5 % unter sonstigen und ungenügend bezeichneten Behinderungen. Die Statistik, die dem Jahresbericht des Behindertenbeauftragten der Stadt Magdeburg, Hans-Peter Pischner, anhängt, zeigt, dass 87,4 % der Behinderungen auf Krankheit (inkl. Impfschaden) zurückzuführen sind. Bei 5,6 % handelt es sich um eine angeborene Behinderung. 1 % sind auf Arbeitsunfälle und Berufskrankheit, 0,8 % auf häusliche Unfälle, Verkehrs- und sonstige Unfälle zurückzuführen.

Woher kommt das Geld für den Umbau?

Der Umbau der eigenen vier Wände in barrierefreien Wohnraum gilt als Privatangelegenheit. Doch besteht die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung vom öffentlichen Sektor und von anderen Trägern zu erhalten. Die Zuschüsse müssen jedoch vor Baubeginn beantragt werden. Wer eine Pflegestufe hat, bekommt von der Pflegekasse bis zu 4.000 Euro für Maßnahmen, die die Pflege erleichtern. Die Bundesländer unterstützen behindertengerechtes Wohnen häufig im Rahmen von einkommensabhängigen Landesprogrammen, wie etwa mit zinsfreien Darlehen. Städte und Gemeinden haben Fördertöpfe für das Wohnen im Alter aufgelegt. Diese greifen jedoch – ebenso wie die Landesprogramme – erst nachdem eigene Mittel und andere Zuschüsse aufgebraucht wurden.

Wer hat’s erfunden?

Der Rollator – oder auch Gehwagen – wurde 1978 von der Schwedin Aina Wifalk erfunden. Sie war aufgrund einer Kinderlähmung gehbehindert und fand durch den schwedischen Entwicklungsfonds eine Firma, die einen Prototyp fertigte. In Deutschland ist der Rollator erst seit Anfang der 1990er-Jahre verbreitet.