Dr. Willi Polte wusste nicht, welcher komplexe Wandel 1990 im Rathaus entstehen würde. Doch er war mittendrin und gestaltete ihn maßgeblich mit.
Von Thomas Wischnewski
Manchmal ist es im Leben so, als müsse man ins Wasser springen und selbst Schwimmen lernen. 1990, während der dynamischen Veränderungen, die in der historisch kurzen Phase weniger Monate bis zum 3. Oktober zur Deutschen Einheit führten, war für alle Menschen in Ostdeutschland eine Zeit permanenter Transzendenz spürbar. Dr. Willi Polte zog mit dem Wahlsieg der SPD am 6. Mai 1990 ins Magdeburger Rathaus ein. Zu diesem Zeitpunkt galt noch DDR-Recht, in dem Kommunen noch Organe der staatlichen Zentralverwaltung waren. Erst vier Tage später verabschiedete die Volkskammer eine Kommunalverfassung, in der bereits die Handschrift bundesdeutscher Gesetzgebung lesbar war. So wie der damals noch vom Stadtparlament gewählte Oberbürgermeister standen auch die Mitarbeiter in der Verwaltung vor riesigen Fragezeichen. Im Prinzip hatte niemand Ahnung davon, was wird, aber alle waren mittendrin.
„Am städtischen Haushalt hingen damals rund 18.000 Menschen. Schulen, Kindertagesstätten und sogar der städtische Blumenhandel waren quasi staatliche Institutionen, die vom Rathaus aus gelenkt und bezahlt wurden“, sagt Willi Polte. Heute gehören zur Stadtverwaltung noch etwa 2.200 Leute. Die ersten organisatorischen Probleme waren zunächst anderer Natur. Nirgends gab es einen Kopierer. Ein Berater aus Braunschweig erklärte dem OB das bis dahin unbekannte Leasing als Finanzierungsmöglichkeit. Nur war im Rathaus noch keine D-Marktvorhanden.
Während aus Berlin permanent geänderte Gesetze und Vorschriften über die unerfahrenen neuen Verantwortlichen hereinbrachen, mussten sie gleichsam einen unbekannten Weg zum Aufbau einer eigenständigen Stadtverwaltung bestreiten. Flankiert wurde der ohnehin komplizierte Prozess fortlaufend von der Stasi-Problematik, der gegenseitige Vertrauensbildung zusätzlich erschwerte. Hoffnung gab es indes im Überfluss. Vielleicht war eben die gemeinschaftliche Hoffnung auf eine prosperierende Zukunft zugleich Zünd- und Bindestoff der Menschen, um das unablässige Handeln im Ungewissen meistern zu können. Das Fundament weiterer Entwicklung baute auf Veränderungswillen, Ideen, Entscheidungskraft und die besonderen finanziellen Möglichkeiten, die vor 25 Jahren durch den Bund eingeräumt wurden.
Der Oberbürgermeister erinnert sich an einen Auftritt vor Mietern der damals noch Kommunalenwohnungsverwaltung (KWV) in der Beimssiedlung. Der Saal in der Flechtinger Straße fasste die Versammlungsteilnehmer nicht. Polte nahm sich eine Obstkiste und redete vor den Stadtfeldern im Freien. „Die Stimmung war aufgeheizt. Ich wurde quasi mit Problemen geflutet: undichte Dächer und Fenster, kaputte Türen, marode Heizungen – die Liste schien endlos“, berichtet der ehemalige OB. Über allen schwebte irgendwie der Glaube, als könnte auf der Obstkiste ein Erlöser stehen, der eine in Jahrzehnten entstandene Misere per Handstreich wegwischen könnte. Trotz der Wut, die im Getümmel kochte, blieb die Versammlung friedlich. Wahrscheinlich waren es wieder die Hoffnungen, mit denen jeder im Inneren ausgefüllt war, unter der sich Eskalationgefahr und angestauter Unmut auflösten.
Willi Polte gibt zu, dass vor 25 Jahren niemand ein Rezept hatte. Es galt jeden Tag aufs Neue, zu sehen, zu lernen und zu tun. Der SPD-Politiker brachte in diese Zeit jedoch eine besondere persönliche Gabe ein. Einerseits konnte er Visionen entwickeln und andererseits beschäftigte er sich mit der historischen Planungsweitsicht früherer Stadtväter. Aus beidem entwickelte sich Machbares. Sicher gehört auch die Willi Polte eigene Begeisterungsfähigkeit, mit der er andere mitreißen und überzeugen konnte, ins Gerüst eines Magdeburger Um- und Neubaus.
Wer weiß heute schon, dass der OB den einstigen Chef des Stadtplanungsamtes, Dr. Eckhart Peters aufgab, für alle Stadtgebiete Bebauungspläne aufzustellen. Nur wer die planerischen Grundlagen hatte, konnte Genehmigungsverfahren anschieben und baurechtliche Tatsachen schaffen. „Wir waren deshalb häufig schneller als Halle. Und heute kann man das am Stadtbild ablesen“, sagt Polte.
Die Geschwindigkeit Magdeburgs war später Thema im Landtag, weil ein Abgeordneter wissen wollte, wie sich die Investitionsgelder zwischen den beiden großen Städten verteilten. Die Landeshauptstadt hatte die Nase weit vorn. So positiv dynamisch sich das Gemeinwesen in allen Bereichen drehte und wendete, so niederschmetternd war die Kehrseite des industriellen Niedergangs. Der wirtschaftliche Einigungsprozess fraß Arbeitsplätze in noch nie gekanntem Akkord. Und viele schauten aufs Rathaus und erwarteten von dort Hilfe. Aber der städtische Lenkapparat war kein staatlicher mehr und es existierte kein Mittel außer mündliche Appelle.
„Wenn man die Möglichkeiten meiner Amtszeit mit denen meines Nachfolgers vergleicht, muss man sehen, dass der heutige Investitionsanteil nur noch ein Drittel von den damaligen Etats ausmacht.“ Dr. Willi Polte sagt das nicht mit einer mitschwingenden Frustration, sondern mit sachlicher Gelassenheit. Die Besonderheit der Aufbruchs- und Veränderungsphase hatte zeitliche Grenzen. Er bezeichnet die Zeit ab 1994 für Magdeburg als eine „Angleichungsphase“. Seiner Schätzung nach würde diese Phase, in der sich beide einst geteilten Gebiete Ost und West auf einem vergleichbaren Niveau bewegten, 50 Jahre dauern. Etwa die Hälfte davon läge hinter uns, meint Polte. Aber der Typus Magdeburger Visionär, der Mut und Kraft mitbringt, Ideen umzusetzen, ist immer gefragt. Das Phänomen, keine Ahnung über die Zukunft zu haben und doch stets mitten in deren Gestaltung zu wirken, wird auch nach 50 Jahren Einheit nicht passé sein.