Weihnachten, das Fest der Familie, das Fest des Friedens. „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden den Menschen auf Erden, die guten Willens sind“, so die Verkündigung im Weihnachts-Evangelium von Lukas. Frieden stiftet sie, die christliche Botschaft, Frieden auf Erden und Frieden in den Herzen. Ist sie wirklich so friedlich, die christliche Lehre? Gewisslich nicht, wenn auch der Islam in puncto Gefährlichkeit dem Christentum mittlerweile den Rang abgelaufen hat. Beide aber nähren sich, zusammen mit dem Judentum, aus denselben Wurzeln. Wurzeln, die auf Mose zurückführen. Die Frage nun:
Kennen Sie Mose?
… Den kennen Sie, na klar, seine Schöpfungsgeschichte zum Beispiel. Selbst jene wissen davon, die den biblischen Lehren eher ferne stehen. Bestens bekannt auch die Sache mit dem Obstdiebstahl, die mit Adam und Eva und dem Baum der Erkenntnis. Die wenigsten hingegen werden von der Bibelstelle wissen, wo der Herr zu Mose spricht: „Der Mann soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen draußen vor dem Lager.“ Und weiter im Text, dem 4. Buch Mose (15, 35-36): „Da führte die ganze Gemeinde ihn hinaus vor das Lager und steinigte ihn, so dass er starb, wie der Herr dem Mose geboten hatte.“ Der Delinquent war beim Holzsammeln erwischt worden, und das am Heiligen Sabbat. Ein Verstoß gegen das dritte Gebot. Überhaupt die zehn Gebote, die Mose vom Berg Sinai herunterbrachte, jeder hat davon gehört. Zum Beispiel das Gebot, wonach man nicht töten soll. Allerdings sind Moses Drittem Buch folgend (Kap. 20) diejenigen mit dem Tode zu bestrafen, die ihre Eltern fluchen, desgleichen Homosexuelle und Ehebrecher wie auch solche, die Geschlechtsverkehr mit der Schwiegertochter, der Schwiegermutter oder mit Tieren ausüben. Für all jene, die im Namen des Herrn die Tötung vornehmen, ist selbstredend eine Ausnahme vorgesehen. Auch Mose hatte sie für sich reklamiert, als er noch am Tag der Verkündigung der Gebote dreitausend Menschen seines eigenen Stammes hinrichten ließ. Weil sie statt des Herrn das goldene Kalb verehrten: „Leget ein jeder sein Schwert an seine Hüfte, gehet hin und wieder, von Tor zu Tor im Lager, und erschlaget ein jeder seinen Bruder und ein jeder seinen Freund und ein jeder seinen Nachbarn“ (2. Mose 32, 27-28). Unmissverständlich lässt Mose sein Volk wissen, dass Gott keinerlei Spaß versteht, wenn es um ihn, den HERRN, selbst geht. „Denn ich, Jehova, dein Gott“, lässt er sich vernehmen, „bin ein eifernder Gott, der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern am dritten und am vierten Gliede derer, die mich hassen.“ Kinder werden also für die Sünden ihrer längst verblichenen Ahnen bestraft. Gleich ob Mann, Weib oder Kind, an anderer Stelle heißt es (5. Mose, 16): „Von den Städten dieser Völker, die Jahwe, dein Gott, dir als Erbteil gibt, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat.“ Mit der Sintflut wurde das vorgemacht.
Das alles ist Altes Testament, ist, neben vielem Gutem, unverlierbarer Bestandteil unseres christlichen Abendlandes. Eine Kultur, die ihre geistigen Wurzeln im Morgenland weiß, nämlich dort, wo Mose sein Zuhause hatte. Gemeint sind damit alle die Autoren, die über hunderte Jahre hin an den ersten fünf Büchern der Bibel gearbeitet haben, dem Pentateuch, das traditionell „Mose“ zugeschrieben wird. Daraus bezieht die Bibel ihre Grundfeste, ihrerseits gespeist von vielen anderen im Morgenland angesiedelten Religionen. Aus diesem Morgenland, dem heutigen Nahen Osten, kommen in unserer Zeit auch die Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen. Nicht zuletzt deshalb, weil ihnen ihre Religion, wenn strikt ausgelegt, das Leben zur Hölle macht. Es ist der Islam, der die konsequente humanistische Aufklärung noch vor sich hat. Mehr als 600 Jahre nach Christus entstanden, zählt er mit dem Judentum und dem Christentum zu den abrahamitischen Religionen. Denn alle drei dieser monotheistischen (Ein-Gott-) Religionen haben Abraham zu ihrem Stammvater erkoren, denselben, der gemäß Mose bereit war, seinen geliebten Sohn Isaak als Brandopfer darzubringen. Nach muslimischer Auffassung war es Ismael, der erstgeborene Sohn. Gleichviel, als Abraham mit dem Messer in der Hand dabei ist zu vollenden, was Gott ihm gebietet, greift ein Engel ein und verkündet, Gott habe ihn nur auf die Probe stellen wollen. Ob Isaak bzw. Ismael sich jemals von diesem Trauma erholt haben, ist nicht überliefert. Und der Vater? Stolz ist er gewesen, weil er sich in seiner hemmungslosen Frömmigkeit bereit zeigte, den schrecklichen Befehl auszuführen.
Wenn wir versuchen, uns Gott als unendlich zu denken, als allmächtig, allwissend und allgütig, dann ist es eher noch schwerer, ihn sich als derart argwillig, eifersüchtig, rachsüchtig, mörderisch, kleinlich und voller sonstiger menschlicher Schwächen vorzustellen. In der Bibel wimmelt es von entsprechenden Zitaten. Ein jeder muss sich fragen, wieso ausgerechnet Vertreter von solcherart Religionen sich als Hüter einer allgemeinverbindlichen Moral aufschwingen. Wenn es denn die Öffentlichkeit will, sie als solche zu handeln, dann doch wohl besser trotz ihrer Religion! Bedrückend viele waren und sind bereit, sich von ihrer Religion zu Entsetzlichkeiten verleiten zu lassen. Vorzugsweise mit der Bibel im Kopf oder dem Koran mit seinen Tötungsgeboten. Da ist kein Krieg ohne religiöses Unterfutter. Außer solchen unter roten Fahnen. Diese aber wehten bezeichnenderweise immer im Wind quasi-religiöser Überzeugungen. Gewiss, wenn heutzutage von kirchlicher Unmoral die Rede ist, dann beschränkt sie sich auf Heuchelei, Korruption, geistige Knebelung und – insbesondere wenn dem Zölibat verpflichtet – Pädophilie. Aber da ist eben auch die andere Seite, sie darf nicht kleingeschrieben werden: Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie Menschen gerade wegen ihrer religiösen Überzeugung Gutes tun, ja sogar bereit sind, dafür ihr Leben zu riskieren. Im Kanon der heiligen Texte zeugen viele Stellen von einer zutiefst humanen Haltung, sowohl bei den großen wie auch bei den kleinen Religionen dieser Erde. Man solle Vater und Mutter ehren, heißt es im Alten Testament, nicht falsch Zeugnis reden wider seines Nächsten. Oder denken wir an das Urteil des Königs Salomo, das von Weisheit und zugleich vom Herzen Kunde gibt. Eine der fünf Säulen der islamischen Lebensweise ist, jenen Almosen zu geben, die dieser bedürfen. Auch an Jesus‘ Bergpredigt ist zu denken. Sie gehört zum jüdischen Kulturgut und ist einer der Grundsteine des Christentums geworden. „Liebt eure Feinde“, sagte Jesus, „und betet für die, die euch verfolgen“. Indes, seine Mahnung konnte all das Schlimme nicht verhindern, was späterhin zur christlichen Praxis gereichte. Ohnehin gibt es auch einen anderen Jesus, einen, der sagte: „Wenn jemand zu mir kommt, und nicht seinen Vater und seine Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern hasst, der kann mein Jünger nicht sein“ (Lukas 14, 26). Und: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit der Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter“ (Matthäus 10, 34 ff.).
Wer oder was ist es dann, was für die Moral bürgt? Sind es Vater, Mutter, Freunde und die Lehrer, sind es die Politiker, Medienleute oder die Promis des Sports und der Bühne und des Fernsehens, ist es die Justiz, sind es die Ethiker, die Moralphilosophen? Ist es die Erziehung also, die Umwelt? Ohne Zweifel dienen alle diese Einflüsse der Schärfung dessen, was uns als Recht oder Unrecht bewusst wird. Was aber wird uns als Recht und Unrecht bewusst, und wie? Der große deutsche Denker Immanuel Kant brachte es auf den Punkt, als er sagte: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ Mittlerweile sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und wir wissen über den bestirnten Himmel viel mehr, aber immer noch recht wenig über das moralische Gesetz in uns. In mir, dem Schreiber dieser Zeilen, wirkt es zum Beispiel schon dann, wenn ich Nächtens die Landstraße entlangfahre und vergessen habe abzublenden, als da das andere Auto entgegenkommt. Nicht die Angst vor der Polizei ist es und die zu erwartende Strafe – wer schon wollte mein Fehlverhalten bezeugen? Nein, das schlechte Gewissen ist es, das mich befällt, einfach weil ich den Entgegenkommenden ohne Not in Gefahr gebracht habe. „Ochse!“, murmle ich dann vor mich hin und halte den Abblendschalter in Bereitschaft, fürs nächste Mal. Ich weiß, Ihnen, verehrte Leserin, verehrter Leser, geht das genauso. Wir alle kennen es, dieses moralische Gesetz in uns, das Kant so bestaunt hat. Es pocht, wenn wir jemanden ungewollt zum Weinen bringen, oder auch schon, wenn wir bei Freunden ein kostbares Sektglas zerdeppert haben, aus Unachtsamkeit. Vor allem dann, wenn der Gastgeber mit schmerzverzerrter Miene großmütig abwinkt. Wie ein spitzer Stein im Schuh drückt es. Im Latein wird dieses Steinchen scrupulus genannt. Auf höherer Etage macht sich der Skrupel als schlechtes Gewissen bemerkbar. Effekt: „Pass auf, so nicht wieder!“ Gepaart mit Scham können sich Skrupel bis zu schlimmster Reue steigern, bis zu einer Selbst-Qual, der im Extremfall manch einer nur noch durch Selbsttötung auszuweichen vermochte. Bildgebende Verfahren zeigen, wo da der Stein drückt, nämlich etwa an derselben Stelle im Gehirn, wo es auch dem weh tut, dem wir das Böse zugefügt haben. Wir sprechen von Spiegelneuronen, von jenen Hirnstrukturen also, die für Empathie sorgen, für Mit-Leid und auch für Mit-Freude. Das Mit-Empfinden rührt von unserer Natur her, denn wir sind – auch! – von Natur aus soziale Wesen. Bei der Menschwerdung wirkte das Selektionsprinzip eben nicht nur hinsichtlich der körperlichen und der geistigen Fitness, sondern auch der sozialen. Freilich, es gibt Menschen, die sind a-moralisch. Sie können weder Mitleid noch Mitfreude empfinden. Entweder sind sie so geboren oder durch Unfall oder Krankheit so geworden. Sie sind arm dran, beide, die Menschen, die es betrifft, wie auch die Menschen, die mit ihnen leben müssen. Da ist schwerlich zu helfen. Und Mose? Im Zürnen geübt, würde er womöglich mal wieder von Gottes Tötungsverbot eine Ausnahme machen. So wie späterhin der Klerus, wenn er Ketzer und Hexen auf den Scheiterhaufen schickte.
„Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?“, fragte Gretchen ihren Faust. Hin und wieder und nicht erst auf dem Sterbebett steht diese Frage vor jedem von uns, nämlich dann, wenn wir nach der Wahrheit suchen, die hinter der Wahrheit steckt, hinter der alltäglichen Wahrheit wie auch der aller Wissenschaft. Wir fragen uns dann in klammer Zuversicht, nicht weitere kalte Wahrheiten zu finden, sondern Hoffnung und Trost. Wunderbar, wie da der Glauben zur Hintertür hereinkommt! Und der Aberglaube. In sublimierter Form auch in das Haus des Atheisten. So mag sich erklären, warum es hierzulande, in unserem christlich geprägten Kulturkreis, zurzeit in aller Herzen weihnachtet. Mit Beginn der Kälte und alle Jahre wieder entdecken wir die Wärme, die tief in uns wohnt und die wir unseren Nächsten spenden möchten. Aber eben auch die Wärme, nach der wir uns sehnen, die andere für uns bereithalten. Mit allerhand Vordergründigem (herzlos, wer „Kitsch“ dazu sagt!) leiten wir die Zeit der Besinnung in die Wege, mit Tannenzweigen, Lichterketten und bunten Glaskugeln, mit gebrannten Mandeln und Glühwein und Weihnachtsliedern, mit Geschenke-Erdenken und -Erjagen und dem Gabentisch. Recht eigentlich aber geht es doch um etwas ganz anderes. Um Hoffnung geht es, um Sehnsucht, um Großherzigkeit. Eine nicht-materielle, eine spirituelle Dimension ist es, die uns da beseelt, eine Vergeistigung der Welt der Tatsachen, die durchaus frei von jeglicher Religiosität sein kann. Solcherart Sehnsucht nach dem An-sich-Guten bringt der alttestamentliche Prophet Jessaia (Kapitel 11) zum Klingen, wenn er verkündet, dass „die Wölfe bei den Lämmern wohnen werden und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder“ – irrational zwar, aber herzerwärmend schön. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten und Frieden!
Der Autor:
Prof. Dr. Gerald Wolf, Studium der Biologie und Medizin, bis zu seiner Emeritierung 2008 Direktor des Instituts für Medizinische Neurobiologie an der hiesigen Universität. Hunderte Publikationen, darunter drei Romane. Dem Thema „Gott im Gehirn“ sind zwei gewidmet: „Der HirnGott“ (2005, 2008, 2014) und „Glaube mir, mich gibt es nicht“ (2009, 2015).