Leben unter Gewissensterror

gewissensterrorLeben Sie richtig? Aufgaben, Gesundheit, soziales Umfeld und Wissensfortschritt terrorisieren das eigene Gewissen. Droht ein gesellschaftlicher Burn-out?

Wir haben die moderne Arbeitswelt zur Hauptursache für zunehmende psychische Erkrankungen erklärt. Mehr Aufgaben in kleineren Zeitintervallen sollen gelöst werden.

Der Stress im Job muss für die erdrückende Verantwortungslast herhalten. Doch schauen wir auch auf die Stunden außerhalb beruflicher Verpflichtungen mit ihren unzählbaren Einflüssen, Informationen und Botschaften, die an einem Tag aufgenommen, bewertet und verarbeitet werden müssen? Die Mehrzahl davon nehmen wir hin, weil es vom eigenen Gewissen aufgetragen erscheint. Der normale tägliche „Wahnsinn“ beginnt in der Regel mit einem Wecksignal und die Gedanken sind in Sekundenbruchteilen bei der ersten Aufgabenflut. In Familien müssen Kinder umsorgt, für  ihren Schultag oder die Kindertagesstätte auf den Weg gebracht werden. Es gilt, nichts zu vergessen. Auch die eigenen Dinge sollen im Detail korrekt und vollständig erledigt sein. Um Himmels Willen, kleiden Sie sich auf jeden Fall angemessen. Was sollen sonst die Kollegen denken?
Oft platzen bereits in der ersten Morgenstunde Nachrichten ins Ohr. Da ist von Umweltzerstörung, Luftverschmutzung, Klimawandel, Kriegsopfern, Hunger, Epidemien, Erdbeben, Terrorismus, Überschwemmungen, Massenarbeitslosigkeit, Rohstoffraubbau, Havarien oder Unfällen die Rede. Man hört die Schreckensbotschaften beiläufig. Aber manche Information klopft mit ihrem verheerenden Inhalt auch schon mal kräftig am Gewissen an. Inzwischen haben andere bereits einige Nachrichten und Neuigkeiten über E-Mails, Messenger-Dienste und soziale Netzwerke abgesetzt und konsumiert. Darunter war bestimmt irgendwo ein Ernährungstipp oder ein Appell, was man besser vermeiden sollte. Im Prinzip steht das Gewissen permanent in einer Habachtstellung und saugt über den Tag geflissentlich unzählige Informationen über Gesunderhaltung, Work-Live-Balance, Fitness- und andere Ratgeber auf. Hinweise zur besseren Lebensführung lauern quasi überall. Nicht nur in Medien. Sie verbreiten sich über Freunde, Arbeitskollegen und sonstige Gesprächspartner.
Natürlich geschieht dies alles, während man fleißig die gestellten Aufgaben am Arbeitsplatz erledigen will. Unbewusst und unaufhörlich testet man sich dabei selbst, ob jeder Auftrag auch zur wahrscheinlichen Zufriedenheit von Vorgesetzten, Kunden oder Mitarbeitern umgesetzt wird. Möglicherweise schweifen die Gedanken währenddessen zur Partnerin oder zum Partner. Die Erinnerung an eine wichtige Besorgung keimt auf. Die Kritik über zu wenig gemeinsame Zeit und Zuwendung wird wach. Das Gewissen ist im selben Moment im Prüfungsmodus, ob die emotionalen Bindungen zum Nachwuchs, zu den Eltern oder zu Freunden und Verwandten nachhaltig gepflegt werden. Denkt man gar falsch, weil es ein anderer sagt?
Bedenken Sie beim Einkauf, dass sie den Einkaufswagen abwechslungsreich, preisbewusst und vor allem ohne schädigende Zusatzstoffe füllen. In Sachen Ernährung und Gesunderhaltung ist mittlerweile eine regelrechte Gewissensindustrie entstanden, die fortwährend aus allen Rohren schießt, was man geflissentlich meiden sollte oder was ratsamer wäre. Selbstverständlich hört man da aufmerksam hin. Schließlich möchte man fit bleiben und möglichst lange leben. Vergessen Sie die abwechslungsreich gestaltete Freizeit nicht und geben Sie sich nur keinem Bewegungsmangel hin. Soll man sich nun gegen dieses oder jenes Virus impfen lassen? Pflegen Sie Ihr Äußeres. Halten Sie die technischen Geräte im Haushalt in Schuss. Computer, Smartphones und Tablet-PCs zeigen Gott sei Dank automatisch an, wenn neue Software verfügbar ist. Verpassen Sie auf keinen Fall enorm wichtige TV-Sendungen. Es ist unvorteilhaft, wenn man bei bestimmten Themen nicht mitreden kann. Handeln Sie stets moralisch richtig? Bedenken Sie alle Gesetze und Regeln. Verstöße können teuer werden. Sind sie ausreichend versichert? Flüchtlinge, Tierschutz und Sportverein – die Liste der Gewissens-appelle ließe sich schier endlos fortsetzen.
Kein Tag vergeht, an dem sich nicht irgendeine Meldung tief ins Gewissen bohrt. Die Flut reißt nicht ab, selbst nachts nicht, wenn man sich unruhig im Schlaf hin und her wälzt. Gerade dann schlägt das Gewissen Purzelbäume und vertreibt mit Unfertigem oder versäumten Vorhaben jede Erholungsmöglichkeit. Es ist nicht nur der Arbeitsplatz, an dem Stress entsteht. Sicher hatte jede zurückliegende Zeit ihre Gewissenslasten, nur mit der Rund-um-die-Uhr-Vernetzung, den Dauerauskünften und Endloserklärungen neuester Forschungen hat alles, was auf unser Bewertungssystem einstürzt, eine Ära eingeläutet, in der der menschliche Organismus noch beweisen muss, ob er der Permanent-Bestrahlung eines Gewissensterrors gerecht wird oder ob die Entwicklung in eine Art gesellschaftliches Burn-out führt.
Bei allem sollte sich jeder darüber bewusst sein, dass man sich die positiven und negativen Appelle in ihrer Fülle meist selbst ins Leben holt. Es existiert kein Zwang überall hinzuhören. Die Ansprüche, denen man gerecht werden will, haben ihre Wurzel in der Informationsflut über richtiges oder falsches Verhalten selbst. Der Gegentrend dazu heißt Gleichgültigkeit. Allerdings ist der genauso fatal.
Thomas Wischnewski