Luther reloaded und das Ende der Reformatoren?

040916pg_luther4Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte der Mönch, Theologe und Zweifler Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen wider den Missbrauch des Ablasses. Das Datum wird als Ausgangspunkt der Reformation angesehen. Ein Jahr vor dem 500. Reformationsjubiläum 2017 beginnt anders als bisher ein globales Gedenken, das von Feuerland bis Finnland, von Südkorea bis Nordamerika reicht. Internationale Projekte, wie Wanderausstellungen und Chorreisen, die Zusammenarbeit von Stiftungen und Auslandspfarrstellen, internationale Kongresse und vieles mehr sollen von einer weltweiten Dimension des Gedenkens zeugen.

„Luther reloaded“ oder der Reformator in aller Munde könnte man sagen. Indes vermittelt die Sicht auf die Welt eher eine Zunahme an Konflikten und kein Ende kriegerischer Auseinandersetzung. Vor allem der Streit über Religionslehren entflammt seit den entbrannten Kämpfen im Nahen Osten mit seinen katastrophalen humanitären Folgen für die Menschen dieser Regionen. Man möchte einen Reformator wie Martin Luther herbeisehnen, der Machthabern, Kriegstreibern und jenen, die den Ereignissen eine politische Legitimation geben wollen, einen Spiegel vorhält und den Weg für die Lösung der Konflikte aufzeigt. Geschichte ist nicht wiederholbar und auf den einen Reformator würde man heute vergebens hoffen.

Ohne die damals selbstherrliche katholische Kirche und ihre Perversion, Glauben in bare Münze umzuwandeln, wäre vielleicht Luther gar nicht der geworden, wie er heute historisch verortet wird. Selbst die Bedingungen der Kommunikation, unter denen sich im 16. Jahrhundert Nachrichten und Meinungen verbreiteten, unterscheiden sich maßgeblich von den heutigen. Luthers modernes Medium war das Buch. Bedenkt man, welche geistige Energie unter der Verbreitung einiger Tausend Schriften erzeugt wurde – zumal in einer Epoche als Lesen und Schreiben noch ein Privileg weniger war – müsste man annehmen, dass unser so genanntes Informationszeitalter einer vernetzen Welt ein Vielfaches von dieser Kraft hervorbringen könnte. Thesen gegen destruktive Entwicklungen und reformatorische Gedanken sollten sich vermeintlich in Windeseile streuen lassen und in die Köpfe von Millionen Menschen ergießen. An Ideen dürfte es nicht mangeln. Oder etwa doch? Möglicherweise ist jedoch gerade die flächendeckende, kommunikative Vernetzung sogar selbst der Schleifbock, an dem jeder bahnbrechende Entwurf abstumpft. Bis vor 15 Jahren, bevor sich Menschen ans Internet massenhafte anschlossen, war schon zu erleben, dass sich Katastrophen und Skandale wellenförmig entwickelten. Ein Ereignis schwoll kurzfristig – je nach medialer Aufmerksamkeit – an um dann von der nächsten Informationswelle weggespült zu werden. Unter den Wirkungen sozialer Medien dynamisiert sich dieser Mechanismus quasi ins Uferlose. Es existiert quasi keine Äußerung, die nicht unmittelbar nach ihrer Verkündung paralysiert wird. Selbst ein sachliches Argument erstickt unter einer Flut an Entgegnungen. Ironische Besserwisserei ist dabei noch die harmloseste Variante.040916pg_luther4

Die Debatten über Flüchtlingspolitik gleichen einer neurotischen Hysterie. Wer hierzu einen vernünftigen Diskussionsbeitrag leisten wollte, erfährt, dass jedes geäußerte Wort sofort unter Gesinnungsverdacht steht. Der daraus resultierende Effekt ist fortschreitende Polarisierung, aber niemals die Entstehung lösungsorientierter Handlungsmuster. Man darf vermuten, dass es bei anderen Themen, die eine ähnlich breite Diskussion auslösen würden, nicht anders wäre. Der Vorteil auf der einen Seite – ein allumfassender Zugang zu jeglicher Art an Informationen – ist offensichtlich der Nachteil auf der anderen, nämlich die damit einhergehende Relativierung von Ansichten. Je öfter nun aus Sendungsbewusstsein oder Vernunftgründen Meinungen und Argumente wiederholt werden, umso höher die Gefahr, dass ihnen aufgrund inflationärer Ausbreitung über lang oder kurz mit einem wachsenden Potenzial an Ignoranz begegnet wird.

Die Kanalisierung eines breiten gesellschaftlichen Konsens löst sich darunter möglicherweise auf. Wer heute behauptet, Millionen oder gar Milliarden an Menschen ließen sich unter der Entwicklung in eine gewisse Richtung steuern bzw. manipulieren, verkennt bewusst oder zumindest fahrlässig die unkalkulierbare Bewegung individueller Entscheidungen in spontan anwachsenden und schnell wieder zerfallenden Meinungsschwärmen. Aus Umfragewerten haltbare Indizien für Einstellungen ableiten zu wollen, ist ein hilfloses Unterfangen. Tragisch ist unter diesen Mechanismen einerseits die geringe Halbwertzeit von Thesen, Vorschlägen und Meinungen und andererseits die Tendenz zu künstlicher Verstärkung von Einzelaspekten. Offenbar erzeugt eine teilweise einseitige Zuspitzung einer Ansicht nämlich einen virtuellen Meinungsorkan, der die Kraft besitzt, sogar Tatsachen und Realität wegzublasen.

Unter den aktuellen Bedingungen auf einen prophetischen Reformer zu hoffen, wird weniger wahrscheinlich als Lottomillionär zu werden. Wer darauf setzt, im anschwellenden Meinungsmeer auf Wahrheiten zu treffen, entfernt sich eher von Tatsachen. Eine Ab- oder Umkehr von diesem dynamischen Prozess wird es nicht geben. Die Entwicklung ist grundsätzlich auch nicht negativ, weil darunter Informationszugänge gerechter geworden sind. Man muss sich nur über etwaige Auswüchse und destruktive Potenziale klar werden. Aber der eine, der wie Martin Luther über ein Thema wie den Ablasshandel eine derart historisch bedeutsame Fußnote setzen kann, der wird im Flimmern, Explodieren und Fusionieren einer virtuellen Meinungs-Supernova keinen erkennbaren Glanz mehr entfalten. Eine Epoche, in der einzelne Reformatoren Maßstäbe setzen könnten, ist scheinbar vorbei. Thomas Wischnewski