„M“ wie Maßstab für großes Figurentheater

m-einestadtsuchteinenmoerder5720jeskodoeringDer deutsche Filmemacher Fritz Lang schuf 1931 mit einem der ersten Tonfilmproduktionen „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ einen Klassiker. Noch heute wird der Streifen auf Platz 6 unter den 100 besten Filmen aller Zeiten geführt. Nach Motiven des Films zeigte das Puppentheater Magdeburg am 2. April die Uraufführung eines Stücks unter dem gleichnamigen Titel.

Roscha A. Säidow, eine 30-jährige Berlinerin, die 2011 für die Inszenierung „Helden“ beim Theatertreffen der Schauspielschulen in Hamburg bereits mit dem renommierten Vontobel-Preis ausgezeichnet wurde, erarbeitete die Konzeption für die Magdeburger Produktion und führte Regie. Sieben Spieler agieren während der knapp 140-minütigen Aufführung. So weit die Fakten.
Wie der dramatische Stoff über die fieberhafte Suche nach einem Kindermörder mit einem regelrechten Figuren-Mosaik in Szene gesetzt wurde, verdient das Prädikat Großes Theater. Die Produktion ist szenisch nah an der Filmvorlage. Eine Adaption der vielseitigen Schauplätze des Kinostreifens auf den kleinen Raum der Puppenbühne zu bringen, ist den Theatermachern grandios gelungen. Die Akteure (Claudia Luise Bose, Anna Wiesemeier, Freda Winter, Richard Barborka, Florian Kräuter, Lennart Morgenstern und Leonard Schubert) meistern in der Inszenierung unterschiedlichste Charaktere, wobei jeder Haupt- als auch Nebenrolle sein kann. Von einem Augenblick zum nächsten hauchen die Darsteller einer neuen Figur Leben ein. Sie können das Spiel mühelos in Spannungsbögen von tumultartigen Massenaufläufen in die tragende Tragik eines Solos oder Duetts überführen. Die offene Balkenkonstruktion des Bühnenbildes (Julia Plickat) kann Arbeiterkietz, Polizeirevier, Heimstatt von Verbrechern und Rotlichtmilieu sein. Viel Volk versammelt sich als Stabpuppen und krakeelt über die neusten Gerüchte aus der Presse. Eine Kaukautzky-Spielfigur ist Ermittlungsführer, Kommissar Lohmann. Ob Marionetten, Schattenfiguren, Masken oder animierte Objekte – das Ensemble nutzt jede denkbare Figurenform, um dem Publikum immer wieder andere charakterliche Facetten zu präsentieren.
Dabei agieren die Spieler auch als Live-Musiker mit Piano, Bass, Gitarre und Saxofon. Sie erzeugen jeden Ton im Stück mit ihren Instrumenten. In der Unterwelt-Szene schlüpfen Darstellerinnen in Männerrollen und Darsteller spielen Prostituierte. Figurenspieler, Schauspieler, Sänger, Musiker – jede künstlerische Ausdrucksform ist im Stück miteinander verwoben und erzeugt im Auge des Zuschauers ein regelrechtes Spektakel. So schlagartig die Stimmung während der Vorstellung zu Dramatik anschwellen kann, so kippt sie im nächsten Moment in Komik. Ein künstlich erzeugter „Sturm“ weht wie vergehende Zeit eine Szene fort, gibt den Spielern Möglichkeiten zum Figuren- und Requisitenwechsel und schafft Platz für das weitere Geschehen.
Das Figurenspiel ist nicht die einzige meisterlich gelungene Seite der Inszenierung. Roscha A. Säidow hat den klassischen Filmstoff mit seiner gesellschaftlichen Auseinandersetzung über Kinderschänder eine höchst zeitgemäße Note verliehen. Eine Schreckensnachricht kann eine ganze Stadt in Aufregung und regelrechte Hysterie versetzen. Gegenseitige Verdächtigungen, Schuldzuweisungen und Sühnesehnsucht sind hier ganz dicht beieinander. Der Text des Stückes schafft Anspielungen an aktuelle Angstaufwallungen. Der Innenminister insistiert bei der Polizei zügige Ermittlungserfolge, weil seine Umfrageergebnisse im Keller sind. Ein lästiger Reporter hält jedem das Mikrofon vor die Nase und stellt tendenziöse Fragen. Das Kartell der Unterwelt organisiert eine eigene Suche nach dem Mörder, um sich der Dauerbeschattung der Polizei zu entziehen. Bürgerwehren sollen für Sicherheit sorgen. Und fast endet die Geschichte in Selbstjustiz und einem Tribunal von Kriminellen über den Triebtäter. Wie soll eine Gesellschaft mit solch Geächteten umgehen? Wie unterschiedlich die Bewertung über die abartige Zwangsnatur menschlichen Seins sein kann und was dies über die richtenden Beteiligten aussagt, wurde auf der Magdeburger Bühne sichtbar.
Die Inszenierung erinnert an vielen Stellen an Brechtsches Theater. Sie zeigt eine künstlerische Qualität, die einen Vergleich mit namhaften Deutschen Bühnen nicht scheuen muss. Arbeiten am Berliner Maxim-Gorki-Theater oder am Schauspiel Frankfurt haben Säidow offensichtlich geprägt. Der Regisseurin ist in Magdeburg ein Meisterwerk des Figurentheaters gelungen, das vor allem deshalb im Ergebnis strahlt, weil das gesamte Ensemble von den Spielern, über die Dramaturgie von Katrin Gellrich sowie dem Einfallsreichtum der Puppen aus den Ideen einer Magdalena Roth zu einem Gesamtwerk verschmelzen konnten. Das junge Ensemble der Magdeburger Produktion könnte ein Garant für die Zukunft eines großartigen Figurentheaters sein. Mit der abgelieferten Leistung in
„M – eine Stadt sucht einen Mörder“ hat die Truppe einen Maßstab gesetzt, den zu übertreffen  eine schwere Herausforderung ist.
Thomas Wischnewski