Potente innere und äußere Bedingungen nehmen den deutschen Staat in die Zange. Langfristig wird er sich dadurch in den Funktionen seiner Institutionen verändern. Viele, die das gar nicht wollen, forcieren mit ihren Forderungen genau diese Entwicklung. Eine Alternative dagegen ist nicht in Sicht.
Von Thomas Wischnewski
Der Staat ist ein vieldeutiger Begriff. Er wurde einst vom deutschen Rechtswissenschaftler juristisch-völkerrechtlich als „die mit ursprünglicher Herrschaftsmacht ausgerüstete Körperschaft eines sesshaften Volkes“ bezeichnet. Max Weber sah den Staat soziologisch als ein auf Legitimität gestütztes „Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“ an. Egal von welcher Perspektive man sich dem Staatsgebilde auch nähert, es funktioniert nie unabhängig von den Bewegungen seiner Bürger. Natürlich realisiert sich staatliches Handeln nie ohne den Einfluss starker Interessengruppen, die vorrangig in Wirtschaft- und Finanzwelt auszumachen sind. Doch derzeit befinden sich die Institutionen staatlicher Herrschaftsausübung in Deutschland gleichzeitig aus unterschiedlichen Richtungen unter Druck. Mittelfristig wird dies das Gebilde in seinen Funktionen und Ausprägungen verändern. Der Staat mit seinen Herrschaftsin-
strumente wie Polizei, Verfassungsschutz, Justiz sowie Militär wird sich über kurz oder lang
stärken.
Auf der einen Seite gewinnen jetzt rechtskonservative Kräfte an Einfluss, die ohnehin programmatisch für restriktivere Mittel und Methoden zur Durchsetzung von Sicherheit und Ordnung stehen. Es ist mit einer Steigerung des Straftatenaufkommens zu rechnen. Die wachsenden Deliktzahlen werden sich aus fremdenfeindlichen Taten, linksextremen Gegenbewegungen, einer Zunahme an Eigentumsdelikten, die aus sozialen Ungleichgewichten in der Gesellschaft resultieren sowie Straftaten von Flüchtlings- und Asylbewerbern speisen. Um dem Sicherheitsgefühl der Bürger Rechnung zu tragen, geht zwangsweise kein Weg an einer personellen Aufstockung der Polizei vorbei. Das geschieht bereits.
Wer glaubt, dass diese Entwicklung vorrangig einem Rechtsruck in der Gesellschaft geschuldet sei, vergisst, dass die Rufe von Links und der Mitte nach einem konsequenten Vorgehen gegen rechte Hetze und durch Forderungen, generell schärfer extremistischen Erscheinungen zu begegnen, genauso viel Potenzial aufbringen, die Exekutive aufzurüsten. Die Polizei personell aufzustocken, ist dabei nur ein erster logischer Schritt. Mit mehr Polizisten geht einher, dass auch Straftatenfeststellungen zunehmen werden. Dies wiederum führt zwangsläufig zu einem höheren Personalbedarf bei Staatsanwaltschaften und Gerichten.
Während besonnene Politiker derzeit darauf verweisen, dass die rechtlichen Grundlagen der Strafverfolgung und Sanktionen ausreichen, um den ausufernden Rechtsverstößen Rechnung zu tragen, postuliert ein gestiegenes Sicherheitsbedürfnis längst härtere Strafen. Und dieses Verlangen kommt gleichermaßen aus allen gesellschaftlichen Strömungen.
Die inneren Entwicklungen speisen sich maßgeblich aus veränderten äußeren Bedingungen. Die Konflikte im Nahen Osten und Nordafrika, die Kämpfe in der Ukraine unmittelbar vor den Toren der Europäischen Union haben die Vorstellung, in der nördlichen Hemisphäre in einer sicheren Welt leben zu können, aufgelöst. Die Militärmächte, die mittlerweile in Syrien mitmischen und aufmarschiert sind, erwecken den Eindruck, als wäre ein ausufernder Krieg unvermeidbar. Neben den verstrittenen sunnitischen, schiitischen, türkischen und kurdischen Gruppen mischen Russen, Amerikaner, Engländer, Franzosen und Deutsche mit. So viel internationales martialisches Potenzial entfacht die Angst vor einem Weltkrieg. Auch in dieser Entwicklung wird Deutschland mitschwimmen. Die Bundeswehr wird an Soldaten aufgestockt und neue Waffentechnik angeschafft werden.
Zeitgleich werden Zerfallserscheinungen der EU deutlich. Die Briten wollen über einen Austritt abstimmen. Osteuropäische Länder wie Ungarn, Polen und die Slowakei gehen weiter auf Distanz. Bargeldgrenzen werden diskutiert und überhaupt schwindet das Vertrauen in den Wert der Währung. Jeder dieser Aspekte schürt weiter an der Orientierungslosigkeit, die längst wie ein Damoklesschwert über dem ganzen Land schwebt.
Verunsicherung kursiert jedoch nicht nur unter der Bevölkerung. Selbst die Regierung spiegelt ein Zerrbild aus gegenseitigen Vorwürfen und konträren Forderungen. Die bisherige Macht erscheint mächtig machtlos. In ein derartiges Handlungsvakuum mischt sich der Aufschrei von Enttäuschten. Das ist der Nährboden für den phänomenalen Aufstieg der AfD in jüngsten Wahlumfragen. Eine in Sachsen-Anhalt mit etwas über 300 Mitgliedern große Kleinpartei kann am 13. März vielleicht zur zweitstärksten Kraft im Landtag aufsteigen. Wie aus dieser geringen Zahl an Mitgliedern fähige und kompetente Politikakteure erwachsen können, ist fraglich. Die AfD-Wahlprogrammatik zu Grenzschließungen und für eine restriktive Asylpolitik wird zwar immer populärer, macht aber noch keine komplexen Konzepte in Bildungs-, Gesundheits-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Vielen Denkzettel-Wählern ist das durchaus bewusst, aber eine scheinbare Ratlosigkeit innerhalb der Regierungsparteien schürt dennoch den Protest. Wähler mit solchem Kalkül spüren erstmals ihre Macht. Sinkendes Vertrauen ins politische Gefüge macht Macht machtlos bzw. zunächst ohnmächtig.
Man erlebt vor allem eine Machtlosigkeit im Hierarchiegefüge. Landespolitik richtet wenig im Bund aus. Eine gewachsene Eurokratie erdrückt nationale Handlungsfähigkeit, regiert bis in das Leben vor Ort hinein, ist aber in vielen Normen derart abstrakt und entfernt vom kommunalen Leben, dass der europäische Überbau teilweise wie eine Machtkrake wahrgenommen wird. Diese wechselseitige Ohnmacht gegenüber Macht- und Verantwortungsverschiebung an immer höhere Instanzen hat gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten in unmittelbaren Lebensregionen kastriert. Und unter allem wuchern weltweit verzweigte Wirtschafts- und vor allem Finanzmechanismen, Rohstoff- und Warenströme, auf die nationale Politik kaum noch Einfluss besitzt.
All diese Tendenzen schaffen weitere Verunsicherung und sie werden staatliche Institutionen in repressiveres Handeln zwingen. Der einst sehr tolerante deutsche Staat wird schleichend Vorschriften und Regelungen enger auslegen und umsetzen. Die Zügel in Verwaltungen waren immer straff, aber aus der Innensicht eines staatlichen Selbstverständnisses heraus kann nur eine feste Positionierung helfen, politische Unschärfen und Unbalancen auszugleichen. Diese Entwicklung bricht nicht in kurzer Zeit über Deutschland herein. Es wird ein längerer Prozess sein, der sich jedoch unter verschärfenden außen- und innenpolitischen Konflikten beschleunigen kann. Auf diese Weise ordnet sich dauerhaft die Staatsmacht neu.
Die zeitweise mächtig wirkenden Willensbekundungen aus dem Volk werden zurückgedrängt. Macht macht machtlos – nur dann in einer kontraproduktiven Art, die Bürgerrechte weiter einschränkt. Der Überwachungsdruck wird sich spürbar erhöhen. Verdächtigungen führen schneller zu Verfolgungen und Sanktionen erhalten eine härtere Gangart.
Die Schilderung mag ein wenig nach einem Horrorszenario klingen. Vertraute Rechtsstaatlichkeit, der gewährte Schutz vor Verfolgung unbewiesener Schuld und die Garantie von Rechtsmitteln sind keine Naturgesetze. Alle diese Grundpfeiler bauen auf das Fundament einer in Balance befindlichen Gesellschaft, die ihren Bürgern ein hohes Sicherheitsgefühl vermitteln kann. Bröckelt dieser Boden, bleibt der Überbau des Staates nicht unbeschadet. Eine kurzzeitige Instabilität wäre für das gesellschaftliche Gefüge ungefährlich. Doch die Bewegungen in der Welt, in Europa und in Deutschland selbst, vermitteln nicht den Eindruck, als könne man irgendwo von vorübergehenden Erscheinungen sprechen. Welche Stellschraube der inneren oder äußeren Bedingungen sich als erste entscheidend bewegen wird, kann man nicht voraussagen. Klar ist, jede Bewegung wird Auswirkungen auf die innere Organisation der Nation haben.