Was wir wissen, drücken wir in Worten aus. Wer wir sind, sagen uns gedachte Begriffe. Doch seit Jahrhunderten leben wir in verklärenden Bedeutungen, sagt die Genderforschung und schafft neue sprachliche Verirrungen.
Von Thomas Wischnewski
Das Leben ist bekanntlich ungerecht, und manches Übel fußt einfach auf missverständlichen Begriffen. Genau dahin zielt die noch junge Genderforschung. Sie erklärt uns seit einiger Zeit, dass wesentliche Unterschiede unserer Geschlechterausprägungen auf kulturelle Entwicklungen zurückzuführen sind und nicht auf die menschliche Natur. Offenbar erwarten uns auf diesem Gebiet noch viele bahnbrechende Entdeckungen. Denn Deutschland leistet sich mittlerweile 191 Lehrstühle für Genderforschung, ausgestattet mit wissenschaftlichen Mitarbeiterstäben. Ergebnis: eine stetig steigende Anzahl von Dissertationen, von Studien und sonstigen Veröffentlichungen, die allesamt den Finger in die Ungerechtigkeit legen, unter der die Menschheit bislang existieren musste. Eine Grundthese der Genderwissenschaften lautet, dass die Umwelt und die kulturelle Evolution weit mehr Einfluss auf die Ausprägung der Geschlechtlichkeit hat als das Erbgut. Die Kraft dieser Thesen zeigt sich immer stärker im Leben und wird in Politik, öffentlicher Verwaltung und vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar. Gleichstellungsbeauftrage sind nur die Spitze dieser Entwicklung. Längst werden Studierende an Hochschulen ermahnt, gendergerecht zu formulieren. Alle öffentlichen Verlautbarungen, Pressemitteilungen und andere Berichte müssen in all den femininen und maskulinen Sprachformen erstellt werden.
Werfen wir also einen Blick auf die so missverständliche Sprache, mit der wir kommunizieren und die mit Begriffsbedeutungen maßgeblich unser Denken beherrscht. Es ist schon fatal, dass unsere Vorfahren sehenden Sinnes nur zwei Geschlechter ausmachen konnten und zur Benennung dieser in simpelster Weise weibliche und männliche Ausdrucksformen entwickelten. Natürlich wird die duale Abgrenzung den Möglichkeiten natürlicher Vielfalt nicht gerecht. Leider baute sich auf beide Geschlechterpole ein ganzes Sprachgebäude auf, dem wir nun als aufgeklärte, wissende Menschen, der Genderforschung sei’s gedankt, endlich mit neuen Wortgerechtigkeiten entgegentreten müssen, um den Übelstand in unserer Sprache und in unseren Hirnen auszumerzen. Damit – und das ist eine der wesentlichen Zielvorstellungen der Genderaktivisten – werden sich viele Barrieren in unserem Denken auflösen. Dann finden auch geschlechtliche Andersartigkeiten, die nicht eindeutig Frau oder Mann zuzuordnen sind, die volle Anerkennung, und die Mannigfaltigkeit wird durch allzu große terminologische Einfachheit nicht länger sprachlich diskriminiert. Auch wenn die Anzahl solcher Menschen recht gering einzustufen sein mag, ist es für sie nun mal unverzichtbar, sich begrifflich vom sogenannten Normalsein abgrenzen zu können.
Allerdings eben, und das ist das Dilemma, ist die aktuelle Bildungsverfassung des deutschen Volkes noch weit davon entfernt, die neuen, von der Genderforschung entwickelten theoretisch und rechtlich korrekten Sprachformen anzunehmen und als Selbstverständlichkeit ins Leben zu führen. Im Alltagsverständnis benötigt Sprache wahrnehmbare Realität. Wir sind nun einmal biologisch mit Sinnen ausgestattet, und diese beeinflussen maßgeblich unser Begreifen. Worte und deren Bedeutungen müssen daher im wahrsten Sinne fassbar werden. Betrachtet man die ohnehin komplexer gewordene Welt und die ausufernden Erklärungen über die selbige, wird schnell klar, dass es die meisten schwer haben, mit dieser Explosion an Zusammenhängen und deren Deutungen zurechtzukommen. In intellektuellen Kreisen und bei den Bildungsspitzen ist das Maß an weitsichtiger Komplexität sicherlich noch nicht ausgeschöpft. Die Mehrheit aber wird mit den neuen Sprachschöpfungen bald den Überblick verlieren. Bildungsstudien ergaben, dass Rechtschreibung und Grammatik beim deutschen Nachwuchs schrumpfende Kompetenzen sind. Und nun bauen wir staatlich befördert und genderwissenschaftlich untersetzt eine Fülle an sprachlicher Begriffsnuancierung auf, die höchstwahrscheinlich nur noch von Fachleuten überblickt werden kann.
Will man dem Anspruch einer vorrangig kulturellen Geschlechtsprägung folgen und das Denken langfristig in die angestrebte Richtung entwickeln, müsste allerdings eine noch viel größere Konsequenz an den Tag gelegt werden. Zu empfehlen wäre neben der korrekten Weiblichkeitsform die Abschaffung aller Sprachgeschlechter. Artikel „der“, „die“ und „das“ könnten komplett verschwinden. Die knifflige deutsche Grammatik würde wohltuend vereinfacht. Vereinfachte, moderne Sprachformen sind z. B.: „Hast du Handy, kannst du anrufen!“ Nun hat die aktuelle Genderforschung mittlerweile mehrere tausend Gendertypen aufgespürt! Was, fragt man sich, ist mit jenen, die sich keinem bekannten Geschlecht zuordnen möchten bzw. können? Will man eine entsprechende Gender-Gerechtigkeit herstellen, reichen männliche und weibliche Bezeichnungen einfach nicht aus. Aber selbst, wenn man vorerst beim althergebrachten Femininum und dem Maskulinum bliebe, müssen Vorschläge auf den Tisch, wie der versteckte Mann in „niemand“ oder „jemand“ gemerzt werden könnte. In unserer Sprache finden sich unzählige Worte, die nach wie vor traditionell maskulin geprägt sind. Wurde eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, warum es im Deutschen zur Herabwürdigung nur „Arschlöcher“ gibt und keine „Arschlöcherinnen“? Die Liste ließe sich in beide geschlechtlichen Richtungen endlos fortsetzen. Warum „der“ Baum und nicht „die Bäumin“? Ein weiterer wichtiger Aspekt soll hier genannt sein: Gerechtigkeit lässt sich meistens nicht so einfach durch wörtliche Benennung erzeugen, sondern weit eher durch Bildung von Kategorien. Also nicht mehr Bezeichnungen sind nötig, sondern eine nachvollziehbare Gliederung! Je mehr Begriffe zur Unterscheidung entstehen, um so mehr Abgrenzungsmöglichkeiten gehen damit einher. Ein Beispiel: Wir können das erfundene Meter als Längenmaß in noch so viele kleinere Abschnitte wie Zentimeter, Millimeter oder Nanometer unterteilen und jeden davon wieder unterteilen. Das Meter bleibt trotzdem ein Meter. Auf dem Erdball wandeln über sieben Milliarden menschliche Individuen, von denen jedes einmalig ist. Es kann beim besten Willen nicht gelingen, jedem Einzelnen seiner Besonderheit wegen begrifflich eine angemessene Beachtung entgegenzubringen. Was bringen dann angeblich tausende identifizierte Gendertypen für ein Mehr an Respekt und Gerechtigkeit?
Der Wortschatz und dessen Verwendung werden zwar durch Unterweisung der Nachkommenschaft vermittelt, die Schulbildung schafft dafür jedoch gerade mal ein Fundament. Denn Lebendigkeit erlangt die Sprache nicht durch die Schule, sondern durch den Volksmund. Dessen Einfluss auf die deutsche Sprech- und Schreibweise ist, so muss befürchtet werden, viel größer als irgendeine wissenschaftlich (z.B. genderwissenschaftlich) fundierte Empfehlung. Hören Sie im Fußballstadion oder während eines Volksfestes unter den Anwesenden gendergerechte Anreden, Debatten oder gar Pöbeleien? Beklagenswert ist zum Beispiel, dass es bislang noch nicht einmal gelungen ist, den Begriff „Studentenlieder“ in den von „Studierendenlieder“ einzutauschen! Auch darf es künftig nicht einfach „bürgernah“ heißen, sondern korrekt „bürgerinnen- und bürgernah“. Die Gender-Sprachregeln, die heute so wundervoll institutionell in die Öffentlichkeit gehalten werden, finden weder an Stammtischen noch in Supermärkten einen fruchtbaren Nährboden.
Leider ist bisher keine Forschungsarbeit bekannt geworden, welche die wirtschaftlichen Auswirkungen gendergerechter Texte in Hinblick auf die entsprechend wachsenden Veröffentlichungsflächen untersucht. Das ist sicher ein wirkungsvolles Forschungsfeld für diesen jungen Wissenschaftszweig. Es wäre interessant zu erfahren, um wie viel Prozent sich Texte gegenüber früheren Manuskripten, Büchern und Artikeln verlängern. Wenn man den Flächenzuwachs berechnet hat, kann man sicher auch die Aufwendungen für die zusätzlich zu fällenden Bäume aufzeigen sowie die mehr erzeugte und verbrauchte Energie auflisten. Allerdings hat eine vermutbar höhere Belastung der Umwelt vor dem Gerechtigkeitsanspruch unter den Geschlechtern zurückzutreten. Auch dann, wenn nicht nur das Verfassen solcher Texte insgesamt länger dauert, sondern auch das Lesen, genauso wie sich Rede- und Zuhörzeiten verlängern. Jedoch darf in der angeblich so zeitverschlingenden Moderne dies nicht einfach nur als ein Antiproduktivitätsfaktor gesehen werden, vielmehr ist der Gewinn an Gendergerechtigkeit zu bedenken! Daher auch darf in öffentlichen Gebäuden keinesfalls mit angemessenen Gender-Örtlichkeiten gespart werden. Hier gebietet sich dringend eine Anpassung entsprechender Bauordnungen. Es kann nicht eindeutig zuzuordnenden Geschlechtern nicht länger zugemutet werden, normale WC zu benutzen, die lediglich für Damen oder Herren ausgewiesen sind. Dann lieber allen eine gemeinsame Toilette zuweisen!
Im Ernst: Wir schaffen es nicht, Kriege, Zerstörung, Hunger, Epidemien und Gewalt aus der Welt zu vertreiben, noch nicht einmal aus dem eigenen Land. Auch vermögen wir es nicht, ausreichend Bildung zu vermitteln und Demokratie im eigenen Staate in allen Nischen und Ebenen zu garantieren. Eine zunehmend ungerechte Verteilung der Einkommen ist zu beklagen, ebenso bei den beruflichen Chancen, die Defizite am Arbeitsmarkt dauern fort. Deutschland kann die Probleme in der Pflege – sowohl in Ansprüchen für Pflegebedürftige als auch für die Entlohnung des Pflegepersonals – nicht angemessen lösen, die demografische Entwicklung sorgt zunehmend für neue Probleme. Demgegenüber erscheinen die Ergebnisse der Genderforschung wie ein erzeugtes Luxusproblem. Auf jeden Fall sind diese weit vom Lebensalltag der Menschen entfernt. Dort erzeugen sie eher Ablehnung statt Verständnis, zumal wenn die für Genderforschung eingesetzten Ressourcen (Menschen, Geld, Immobilien, Energie und Sachmittel) ins Verhältnis zum Nutzen gesehen werden. In allen möglichen Fachgebieten werden an unseren Universitäten Professuren eingespart, aber neue für „Gender Studies“ eingerichtet.