Mit aller Kraft für Rio

VSB_KarinaMF4Der Blick ist auf die EM im November gerichtet. Dann kann sich Karina Müller-Freye vom VSB 1980 für die Paralympics in Rio qualifizieren.

Von Tina Heinz

Im Strafvollzug habe ich das für mich entdeckt“, antwortet Karina Müller-Freye auf die Frage, wie sie zum Gewichtheben gekommen sei. Sie lacht dabei, denn sie weiß um die Verwirrung, die sie mit dieser Antwort bei Personen stiftet, die sie nicht kennen. Dann die Auflösung: „Ich war als Beamte des Vollzugsdienstes tätig und habe mir das von den Gefängnisinsassen abgeschaut. So nach dem Motto: Was sie können, kann ich auch.“ Mitte der 1990er war das. Inzwischen arbeitet die 45-Jährige nicht mehr im Strafvollzug. Eine Krebserkrankung setzte dieser Laufbahn ein Ende. Und wenn Karina darüber spricht, klingt das ganz unkompliziert und selbstverständlich – was das Leben eben mit sich bringt …
Sie setzt auf das, was ihr wichtig ist, und hält sich daran fest. Warum sich unterkriegen lassen? Sie hat ihren elfjährigen Sohn, zwölf Pferde und den Sport. „Reiten, Schwimmen und Gewichtheben – dafür verwende ich sehr viel Zeit“, erzählt die Weferlingerin. Vielleicht geht sie auch mit einer gewissen Leichtigkeit mit dem Thema Krebs um, weil sie bereits andere gesundheitliche Rückschläge überwunden hat. Im Alter von 14 Jahren wurde bei Karina Spinalparalyse diagnostiziert, eine seltene Krankheit (5 von 100.000 Menschen sind davon betroffen), die Lähmungserscheinungen in den Beinen verursacht. „Durch einen genetischen Fehler sind die Nervenbahnen beeinträchtigt. Sie leiten Impulse nicht weiter, die ein normales Gehen ermöglichen“, erklärt die 45-Jährige sachlich.
Noch ein Grund für das Gewichtheben. „Mit meinen Beinen kann ich schließlich nicht viel anfangen“, sagt sie und lacht. Als Karina 1998 ihre Gewichtheber-Karriere beginnt, startet sie zunächst bei Wettkämpfen im nicht-behinderten Bereich. Erst durch den Kontakt zum Verein für Sporttherapie und Behindertensport 1980 Magdeburg e.V. entscheidet sie sich, an Wettbewerben für Behinderte teilzunehmen. „Gewichtheben für Behinderte gibt es nur in Form von Bankdrücken“, erklärt Florian Giese (s. Foto) vom VSB 1980, der Karina in Magdeburg betreut und mit ihrer Hilfe auch die Nachwuchsarbeit in dieser Sportart intensivieren möchte. „Anders ist es nicht möglich. Denn wer an einer Erkrankung leidet, die die Beine betrifft, muss das Heben der Langhantel im Liegen ausführen.“
Dabei müssen natürlich gewisse Regeln eingehalten werden. „Beispielsweise darf der Kopf beim Heben nicht bewegt werden, die Hände müssen sich in einem bestimmten Bereich an der Hantel befinden. Und je nach Grad der Behinderung darf zum Fixieren der Beine ein Gurt genutzt werden“, erklärt die 45-Jährige aus Weferlingen. Alles andere sei ganz einfach: Jeder Athlet hat drei Versuche. Wer das schwerste Gewicht stemmt, gewinnt.
Doch ganz so einfach ist es doch nicht. Denn beim Gewichtheben geht es für Karina Müller-Freye nicht nur um die Kraft. Auch die Technik, die Taktik und das Einschätzen des Gegners beim Wettkampf spielen eine Rolle. „Das macht die Sportart so interessant. Es kommt auf die Tagesform an, es gehört auch Glück dazu und vor allem die Psyche muss mitspielen. Deshalb nehme ich meinen Sohn nicht zu Wettbewerben mit – dann suche ich ihn ständig, mache mir Gedanken um ihn und kann mich nicht konzentrieren.“
Ihren Fokus hat die Gewichtheberin nun auf die Europameisterschaft Ende November in Ungarn gelegt. Mit einem sehr guten Ergebnis könnte sie sich dann für die Paralympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro qualifizieren. Damit wäre Karina in diesem Bereich seit langem wieder die erste aus Sachsen-Anhalt, die dieses Ziel erreicht. In die Karten schauen lässt sich die 45-Jährige nicht, doch sie strahlt Zuversicht und Willensstärke aus. „Beim Gewichtheben im Behindertensport gibt es – anders als im nicht-behinderten Bereich – keine Altersklassen. Das heißt, ich muss gegen viel jüngere, spritzigere Konkurrentinnen antreten“, erklärt Karina einen möglichen Nachteil. „Aber sie haben noch nicht so viel Erfahrung. Und ich bin nervenstark …“

Foto: Peter Gercke