Nie zuvor war in der Nachkriegszeit der Standort Deutschland so gefährdet wie heute. Noch sind wir stark, leben aber von der Substanz. Investitionen in die Wirtschaft nehmen ab. Ein Grund für die Abkehr ist der geistige Klimawandel durch das Abschmelzen von Wissenschaftlichkeit und hin zu esoterischer Deutungshoheit.
Von Reinhard Szibor
Firmen verlegen Forschungsabteilungen in die USA und sogar nach China. Große wissenschaftliche Institutionen verlagern Teile ihrer Forschung ins Ausland. Akademiker verlassen in Scharen unser Land! Politiker und Leitmedien wollen uns einreden, dass wir die (meist fälschlicherweise) als Risikotechnologien eingestuften Neuerungen nicht bräuchten, denn unser Export sei ja stark und in den Supermärkten quellen die Regale über. Aber der VW-Skandal vermittelt eine Ahnung davon, wie schnell tragende Säulen zusammenbrechen und wie wichtig es ist, breit aufgestellt zu sein.
Es hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen. Galten noch im vergangenen Jahrhundert ein hoher Bildungs- und Wissenstand junger Menschen und wissenschaftsbasierte Politik als Voraussetzung für künftigen Wohlstand, beeinflussen heute Esoterik und Okkultismus die Politik, das Bildungswesen und sogar die Wirtschaft. Dazu passt dann auch die Kritik an Wachstum und Wohlstand, wie man sie allerorten hört. In einem kirchlichen Kalender las ich gerade, dass wir uns gegen Konsumzwang wehren müssten! Gibt es dunkle Mächte, die uns zwingen, gut zu essen und in komfortablen Verhältnissen zu leben? Esoterische Heilslehren werden propagiert und Bestrebungen, die Produktion landwirtschaftlicher Güter staatlich gefördert auf den Boden des obskuren Gedankengebäudes eines Rudolf Steiner zu stellen, er-freuen sich wachsender Beliebtheit. Umwelt- und Entwicklungshilfeverbände drängen auf eine sogenannte „demokratische Forschungswende“, was im Klartext eine Deformierung der Demokratie in eine Laienherrschaft bedeutete. Demokratisch ist die dabei angestrebte Wende in keiner Weise. Vielmehr soll eine außerparlamentarische Opposition aus Kirchenleuten und irreführend als „Umweltschützer“ bezeichneten Laien mitentscheiden, welche Forschungsprojekte gefördert werden dürfen und welche nicht. Die Umweltministerin Barbara Hendricks geht noch einen Schritt weiter, indem sie formuliert: „Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit muss bei ihrer Risikoforschung die gentechnik-kritischen Forschungen stärker gewichten“. Aber Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass sie ergebnisoffen ist. „Gentechnik-kritische Forschung“, für die dem Wortsinn gemäß eine negative Beurteilung schon vorher feststeht, ist kein Forschungs-, sondern ein Propaganda-Unternehmen. So manches erinnert dabei an die politische Indoktrination durch die Institute für Marxismus-Leninismus. Wenn sich Parteien und verschiedene NGOs (Nichtstaatliche Organisationen, engl. nongovernmental organisations) zu einer „genkritischen Bewegung“ erklären, drängt sich die Vermutung auf, dass sie mit den Fakten nicht umzugehen imstande sind. Nach ihrer Logik könnte man sich auch eine kosmoskritische Bewegung vorstellen, die mit astronomischen Daten hadert und zum Beispiel fordert, die Umlaufzeiten des Mondes an den Monatszuschnitt unseres Kalenders anzupassen.
Ist es nicht bemerkenswert, dass Gegner der Agrogentechnik noch nicht einmal zu unterschei-den gewillt sind, ob mittels Gentechnik nur ein einziger Baustein in der DNA ausgetauscht, oder ein ganzes Gen übertragen (z. B. von Wildkartoffeln auf Kulturkartoffeln), oder ob eine Vielzahl von Genen aus anderen Arten transferiert wird? Der Stempel Gentechnik reicht! Eine vermeintliche Gefährdung erwächst bei diesen Menschen aus der (absurden) Vorstellung, dass die „künstlich“ veränderte DNA Einfluss auf das Genom des Konsumenten haben könnte. Das ist pure Mystik. Mittlerweile sind wir sogar schon so weit, dass die Mehrheit unserer Politiker bei ihrer Positionierung die Empfehlungen sämtlicher namhafter Wissenschaftsgesellschaften ignoriert und stattdessen Pseudowissenschaftlern, wie Christoph Then und Gilles-Eric Séralini, die Deutungshoheit zubilligt. C. Then promovierte zu einem Thema aus der höchst umstrittenen Homöopathie, und Seralini ist ein französischer Professor, der Studien über Präparate für eine „Entgiftung“ des Menschen veröffentlichte. Er propagiert, dass „Vibrationen der Erde“ die Energie zum Pflanzenwuchs verleihen! Seralinis Publikation zur angeblichen krebsverursachenden Wirkung von GvMais NK603 erregte Aufsehen mit weitreichenden Konsequenzen. Spektakulär in Szene gesetzte Versuchstiere waren mit Tumoren übersät, und Seralini behauptete eine Verursachung der Tumore durch eben diesen Gv-Mais. Tatsächlich wurde hier aber ein Rattenstamm herangezogen, der genetisch bedingt hochgradig krebsanfällig ist. Mit anderen Worten: eine glatte Fälschung. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit und das Bundesinstitut für Risikobewertung haben dann auch eindeutig klargestellt, dass die Studie nichts wert ist, aber viele Politiker verwerten diese Unredlichkeiten weiterhin in ihrer Argumentation.
Die Gentechnik ist nur ein Beispiel für einen größeren Trend. Dazu gehört, dass Esoteriker die akademischen Bildungseinrichtungen unterwandern. Die Internetplattform Psiram hat die Zahl der Hochschulen mit pseudowissenschaftlichen Lehrinhalten deutschlandweit auf inzwischen 21 beziffert. Sogar unsere ansonsten so ehrenwerte Magdeburger Universität bietet im Medizinstudium Homöopathiekurse an. Die SPD-Politikerin Gesine Schwan agierte als eine der Wegbereiterinnen. Vor ihr hatte sich schon Renate Künast erfolgreich darum bemüht, den Okkultismus an der Kasseler Uni zu verankern. Daraufhin konnte hier beispielsweise der Dozent Ton Baars seinen Studenten spezielle Methoden des biodynamischen Landbaus beibringen. Man geht dazu mit Pendeln über den Acker und ruft Elfen und Klabautermänner an. Welch traurige Realität!
Zu dem Ganzen passt, dass man im Bundestag und in der Länderkammer nicht etwa darüber streitet, ob der Anbau gentechnisch verbesserter Pflanzen verboten werden soll, sondern nur noch darüber, wie ein Verbot rechtssicher gestaltet werden kann. Dass der Obskurantismus bei uns um sich greift, zeigen auch die Bauern, die für den Verband „Demeter“ tätig sind: Sie vergraben mit Mist gefüllte Kuhhörner im Acker und halten sich dabei an den Spruch von Demeter-Vordenker und Waldorfschulen-Gründer Rudolf Steiner: „Oh Kuh, Deine Kraft aus der Sprache, die die Sterne in mir offenbaren. Kuh, die Hörner hat, um in sich hineinzusenden dasjenige, was astralisch-ätherisch gestalten soll.“ An der Hochschule Merseburg lehrt ein Professor Voß, dass die biologische Zweiteilung der Menschheit nach dem Geschlecht eine Theorie der Nazis sei, die es zu überwinden gelte. Es gäbe mehr als 100 Geschlechter, wird an den rund 200 Lehrstühlen für „Genderwissenschaften“ in Deutschland gelehrt. Und die Politiker richten ihr Handeln danach aus. So etwas läuft unter der Bezeichnung „Gender Mainstreaming“ und führt unter anderem dazu, dass für Menschen, die sich nicht entschließen können, welchem Geschlecht sie angehören wollen, Extratoiletten gebaut werden. In Baden-Württemberg wurden unlängst Kinderbibliotheken von Büchern mit unerwünschten Inhalten befreit. Es genügt z. B., dass das Wort „Neger“ darin vorkommt, auch wenn die Autoren den Begriff keineswegs herabwürdigend, sondern nur dem Sprachgebrauch ihrer Zeit folgend benutzt hatten. Bücher von so hervorragenden Autoren, wie Otfried Preußler oder Erich Kästner, sind betroffen. Dieses Mal werden die Bücher nicht, wie Kästner im Rückblick auf den 10. Mai 1933 formulierte, mit „düsterem Pomp den Flammen übergeben“, sondern nach grünen Regeln recycelt. Womöglich zur Herstellung von kompostierbaren Verpackungen für Bio-Eier oder Tragetaschen für Demeter-Gemüse. Ein Witz der Geschichte: Der von den Korrektheitswächtern so verehrte Rudolf Steiner huldigte einer kruden Rassentheorie. „Die Negerrasse gehört nicht zu Europa, schrieb er, und es ist natürlich ein Unfug, dass sie jetzt in Europa eine so große Rolle spielt.” Noch abscheulicher sind seine Verunglimpfungen von Juden, Indianern und Russen. Die Waldorfschulen unterrichten nach eigenem Bekunden in Steiners Geiste. Auch wenn sich der Bund der Waldorfschulen im Jahre 2007 mit der Stuttgarter Erklärung von rassistischen und diskriminierenden Tendenzen distanziert, bleibt doch zu fragen, ob es ausreicht, nur ein besonders peinliches Feld des abstrusen Gedankengebäudes zu streichen. Zu prüfen wäre, was sie von Steiners Hirnlehre halten: „Was ist die Hirnmasse“, fragte er. „Die Hirnmasse ist einfach zu Ende geführte Darmmasse. Verfrühte Gehirnabscheidung geht durch den Darm. Der Darminhalt ist seinen Prozessen nach durchaus verwandt dem Hirninhalt. Wenn ich grotesk rede, würde ich sagen, ein fortgeschrittener Dunghaufen ist das im Gehirn sich Ausbreitende; aber es ist sachlich durchaus richtig.“ Eltern von Waldorfschülern loben zu Recht die vorbildliche soziale Kompetenz der Schule. Aber könnte man die nicht auch gewährleisten, ohne gleichzeitig Anfälligkeit für Esoterik und Okkultismus zu pflegen?
Hoffen Sie mit mir, verehrte Leserinnen und Leser, dass sich die Mehrheit in Deutschland nicht der Wissenschaftsferne, sondern der Wissenschaftsnähe verschreibt. Es geht um unsere Zukunft!
Über den Autor: Prof. Dr. Reinhard Szibor ist gelernter Gärtner, später studierte er Biologie an der FSU Jena. Molekulare Genetik lernte Szibor am Max-Delbrück-Zentrum in Berlin-Buch. An der OvGU arbeitete er wissenschaftlich auf dem Gebiet der Molekularen Abstammungsgenetik. Er ist Mitglied im Kollegium emeritierter Proffessoren und gehört dem Forum Grüne Vernunft an.