Nachbarschaft ist das
bekannteste Milieu. Es kann jedoch außergewöhnliche Phänomene hervorbringen, für die
vor allem die Nachbarn die Verantwortung tragen. Nachbarn sind allgegenwärtig. Jeder hat in dieser besonderen Spezies sicher schon komische Käuze ausgemacht. Da gibt es die Ignoranten, die sich derart tief in ihrer Wohnhöhle verkriechen, dass man meinte, sie würde nichts vom Leben ringsum interessieren.
Diese sind selbstredend unauffällige Zeitgenossen und sie werden deshalb kaum auffällig. Erst, wenn ihnen ein Übel widerfährt, bemerkt man ihre Existenz. Oder es tun sich die anderen Nachbarn hervor, die aufgrund ihrer unstillbaren Neugier, über jene stillen Bewohner alle möglichen Gerüchte und Interpretationen fabulieren.
Die Alles-Wisser-Nachbarn gelten als besonders unbeliebte Mitmenschen, weil sie nicht nur über Dritte, sondern ganz bestimmt auch über einen selbst die schönsten Tratschgeschichten verbreiten können. Trotz dieses negativen Rufes stirbt die Gattung nicht aus. Manchmal sollte man sich gar an die eigene Nase fassen und darüber nachsinnen, was man so alles über seine Nächsten zu verbreiten in der Lage ist. Die schrecklichste Nachbars-Gattung sind die kritikokastischen Querulanten, die immer und an allem herumnörgeln können. Diese Dauermeckerer dürften statistisch am häufigsten unter der älteren Generation zu finden sein. Mangelnde soziale Kontakte, fest verankerte, schmale Einstellungsgrenzen lassen diese Querköpfe beim kleinsten Ungemach aufbrausen und verschrecken jeden Anrainer.
Nachbarschaft ist anscheinend eine wenig erforschte Lebensform, obwohl ein jeder selbst Nachbar ist und sich dieser Sozialgemeinschaft kaum entziehen kann. Vor allem sind es ausschließlich die Nachbarn, die Fehler machen oder als Störenfriede daherkommen. Mit dem eigenen Charakter, Nachbar zu sein, haben Konflikte Wand an Wand im Selbstbild vieler Bewohner wenig zu tun.
Dabei wird Nachbarschaft schon in der Schule gelernt. Der kleine Mensch am selben Tisch ist der erste Nachbar, der einen länger durchs Lebens begleitet. Trotz dieser einschlägigen Früherfahrungen tun wir uns später häufig mit den Wohnexemplaren hinter benachbarten Haustüren schwer. Über Partner, die wir uns an die Seite wünschen, erstellen wir riesige, gedachte Checklisten. Nach einiger Zeit liegen dann zwei verbundene Menschen zwar in einem Bett, träumen sich aber meilenweit voneinander weg. Die Wesen, die oft nur wenige Zentimeter und nur von einer schmalen Wand getrennt nebenan existieren, über die machen wir uns vor einem Einzug in eine Wohnung oder ein Haus keine Gedanken. Plötzlich ist man Nachbar und von vielen anderen derselben Art umzingelt. Das private Lebensareal wird zwar sorgfältig nach Lage, Einkaufsmöglichkeiten, Kinderbetreuungsangeboten, Grünflächen oder Freizeitsortimenten ausgewählt, aber die Nachbarn nimmt kaum jemand unter die Lupe. Man vertraut darauf, dass man schon miteinander auskommt. Zum Trost sei gesagt: in den meisten Fällen klappt das auch sehr gut.
Wer in eine Gegend zieht, in der höhere Mietpreise verlangt werden, hofft in der Regel darauf, in der Nachbarschaft seinesgleichen zu finden. Unflätige Zeitgenossen sollten dort kaum anzutreffen sein. Allerdings ist die Konflikt-Wahrscheinlichkeit unter Nachbarn in solchen Milieus nicht geringer. Gerade in idyllischen Eigenheimsiedlungen tritt die Hauptursache für Streitigkeiten unter Nachbarn häufiger auf. Die vorrangige Quelle zugespitzter Revierkämpfe sind nämlich Bauten auf Grundstücken. Man richtet sich möglichst vorzüglich nach eigenem Gusto ein und verschwendet nicht einen Gedanken an die lieben Nachbarn. Jene fühlen sich von Anbauten, Zusatzvorrichtungen und allerlei Gewächsen schnell im eigenen Lebensraum beeinträchtigt. Nachbarn machen es eben gern so, wie man es sich selbst am besten denkt – die nebenan werden es schon schlucken. Auch der beliebte Nachahmereffekt scheint eine ausgesprochen oft vorkommende Nachbarschaftseigenschaft zu sein. Neue Errungenschaften (Autos, Pools, Gartenmöbel, Verzierungsgedöns etc.) bleiben nicht lange solitärer Habitus, sondern vermehren sich auf wundersame Weise in der Nachbarschaft. Wenn der Partygrill-Weltmeister links oder rechts des Gartenzauns jede Woche Indianer-Rauchzeichentrainings absolviert, ist es irgendwann vorbei mit der schönen Nachbarschaft. Doch bedenken Sie stets: Wohin Sie auch ziehen – überall warten schon die neuen Nachbarn.
Thomas Wischnewski