Die demografischen Trends lassen die Alten zur mächtigsten Wählergruppe werden. Steht dem Land eine „Revolution der Rentner“ bevor?
Von Thomas Wischnewski
Das Szenario ist bekannt: Die größte Errungenschaft der letzen 60 Jahre ist eine stetig gewachsene Lebenserwartung. Dagegen zeichnete sich der Trend ab, das Geburtenzahlen enorm zurückgingen. Die Rede vom demografischen Wandel ist in aller Munde. Die Sozialsysteme können mit der Arithmetik ihres Ursprungs nicht einfach weitergerechnet werden. Die Sozialabgaben der Beitragszahler werden 2017 nach zehn Jahren erstmals wieder die 40 Prozent-Marke überspringen. Jedem grundgebildeten Bürger ist klar, dass eine geringere Anzahl junger Menschen eine steigende Zahl alter nicht mehr in der Weise finanzieren kann, wie das über Jahrzehnte der Fall war. Der Gipfel des Problems wird aber erst erreicht, wenn die geburtenreichsten Jahrgänge, der von 1960 bis 1970 Geborenen, in den Ruhestand gehen möchten. Wobei die althergebrachte Vorstellung von einem genüsslichen Lebensabend nach der aktiven Schaffensperiode für diese Generation schon heute einer großen Fantasterei gleicht. Die Finanzierungsproblematik eines wachsenden Ungleichgewichts in der Altersverteilung der deutschen Gesellschaft ist dabei nur eine große Unbekannte. Die Lebensmaximen einer mehrheitlich alten und erfahrenen Generation strahlt unweigerlich auf die Konstitution von Staat, Recht und sozialem Leben aus.
Wirft man einen Blick auf die Altersverteilung der Vergangenheit (Grafik Seite 5) sieht man, dass in Deutschland 1871 noch 44 von 100 Menschen unter 20 Jahren jung waren. Nur 5 waren über 65 und statistisch wurde quasi niemand über 80 Jahre alt. Um 2007 hielten sich die Säulen zwischen den unter 20-Jährigen und über 65-Jährigen die Waage. Seither steigt die Generation der Rentner weiter an und der Anteil Jüngerer nimmt ab. Welche Wirkungen können Menschen mit höheren Lebensaltern erzeugen, wenn sie als übergroße Mehrheit aufgrund ihrer spezifischen Lebensgewohnheiten, ihrem Wahlverhalten und ihren besonderen Erwartungen zum Regulativ der Gesellschaft werden? Ganz nüchtern darf man konstatieren, dass die wachsende Anzahl der Älteren steigende Ansprüche an das Gesundheitssystem stellen wird, einfach aus der Natur fortschreitender Morbidität am Ende des Lebens. Gleichsam sinken damit gewisse Konsumbedürfnisse, weil viele Gegenstände des Lebens vorhanden sind und nicht mehr neu angeschafft werden.
Hier sollen jedoch zunächst psychologische Aspekte hervorgehoben sein, die mit dem Prozess des Alterns einhergehen. Wer kennt nicht Erklärungen aus dem Mund höherbetagter Verwandter und Bekannter, die deutlich machen, dass man „neumodischen Kram“ nicht mehr mitmachen müsse? Die Bereitschaft, Veränderungen anzunehmen oder sich neuen Bedingungen zu stellen, verschwindet mit zunehmenden Lebensjahren. Außerdem steigt das Bedürfnis nach Sicherheit aufgrund abnehmender Mobilität und Lebenskraft. Verunsicherung und Ängste nehmen zu.
Es darf also durchaus geschlussfolgert werden, dass das gesellschaftliche Potenzial für neue Impulse bzw. sich veränderten Bedingungen zu stellen, abnimmt. Die Karte über die Verteilung des Altersquozienten (Abbildung oben) zeigt, dass in den Regionen Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt 65-Jährige schon jetzt einen Anteil von rund 50 Prozent an der Bevölkerung einnehmen. Daraus einen unmittelbaren Zusammenhang zu rechtskonservativen Wahlerfolgen herzuleiten, ist reine Spekulation. Schließlich war die AfD bei den letzten Landtagswahlen vorrangig bei Männern jungeren und mittleren Alters erfolgreich. Aber der künftige Einfluss darf nicht ausgeblendet werden. „Wahlberechtigte ab 60 Jahren stellten bei der Bundestagswahl 2013 bereits gut ein Drittel aller potentiellen Wähler. Gleichzeitig war die Wahlbeteiligung dieser Altersgruppe vergleichsweise überdurchschnittlich. Angesichts der demografischen Entwicklung beeinflussen damit ältere Wähler immer stärker den Wahlausgang“, sagte der Bundeswahlleiter Roderich Egeler zu den Ergebnissen der letzten Bundestagswahl.
Der Altersdurchschnitt in den politischen Parteien ist ebenfalls ein Spiegel deutscher Demografie. Den höchsten Altersdurchschnitt findet man mit 60 Jahren bei den Linken, gefolgt von CDU und SPD mit jeweils 59 Jahren. Die FDP bringt es im Durchschnitt auf 54 und die Grünen auf 49 Lebensjahre. Mit 47 Jahren ist die AfD im Parteienkonzert nicht nur von der Gründung her, sondern auch im Altersdurchschnitt die jüngste Partei. Bei allen künftigen politischen Entscheidungen im Land sprechen die Alten mit ihren Interessen und Wertvorstellungen stets ein gehöriges Wörtchen mit. Fraglich ist, ob ein wachsender Bevölkerungsanteil, der die Wertschöpfungsphase hinter sich gelassen hat, der keine Unternehmen mehr gründet und kaum auf eine weite Zukunft angelegte Initiativen beginnen wird, genügend Bereitschaft aufbringt, Anstrengungen der jüngeren Generationen für gesellschaftliche Veränderungen mitzutragen. Die Altersverteilung bei der Wahlentscheidung der Briten zum Brexit, bei dem die Älteren mehrheitlich für den Austritt stimmten, könnte bei aller berechtigten Kritik an der EU-Konstitution als Indiz dafür herhalten.
Junge Menschen haben beim Eintritt ins Erwachsenenalter noch wenig Berührungen mit dem politischen Leben gemacht. Insofern kann gemutmaßt werden, dass ihr Interesse an politischer Mitwirkung weniger stark ausgeprägt ist, als das älterer Generationen. Letztere bringen einerseits ein hohes Potenzial an Lebenserfahrungen und Wissen in ihre Entscheidungen ein, orientieren sich jedoch andererseits an verfestigten Einstellungen und Werten. Es ist also durchaus denkbar, dass Parteien mit spekulativen Zukunftsplänen in ihren Programmen kaum Widerhall bei Wählern finden werden. In der aktuellen Verfassung der Gesellschaft mögen solche Erscheinungen noch im Keim stecken. Doch die Vier- bis Fünfjahreszeiträume zwischen zwei Parlamentswahlen sind lang genug, um die Dynamik der Demografie noch deutlicher im Wahlverhalten sehen zu können.
Es muss heute davon ausgegangen werden, dass das Potenzial des Festhaltens ein höheres Gewicht erhält und damit für eine Art „Revolte von oben“ sorgt, oben im Sinne der höheren Lebensalter. Keinesfalls darf an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben, dass sich die Generation ab 65 mit der Aussicht auf eine höhere Lebenserwartung stark gewandelt hat. Noch nie in der Geschichte waren Rentner derart aktiv, mobil und unternehmungsfreudig wie heute. Aber der Facettenreichtum an kulturellen und alltäglichen Lebensbedürfnissen kann nicht mit einer ähnlichen Variabilität für Einstellungen gleichgesetzt werden. Ein Beleg dafür mag die Annahme sein, dass das Rentensystem in seiner bestehenden Form nur per Änderung der Rentenformel ausgeglichen werden müsste, um Kindern der Babyboomer – also den heute 45- bis 60-Jährigen einen angenehmen Lebensabend zu garantieren. Doch weder höhere Mathematik noch Politik können den Nachwuchs ausgleichen, den die heute mittlere Generation nicht hervorgebracht hat. Wer die Sozialsysteme und die politische Balance zwischen Jung und Alt beibehalten möchte, kommt am Wort Zuwanderung nicht vorbei. Sicher gibt es für gesellschaftliche Solidarität noch eine Menge Spielraum. Nach wie vor müssen nicht alle Berufstätigen in die gesetzlichen Sicherungssysteme einzahlen. Hier schlummert sogar ein progressives Potenzial, dass beitragsbefreite Berufsgruppen unter Höherverdienern künftig gesetzlich gezwungen werden könnten, in die Sozialsysteme einzuzahlen. Desweiteren dürfen die Selbstorganisationskräfte von Menschen nicht unterschätzt werden. Wenn der Staat nicht mehr Garant für bestimmte Leistungen sein kann, finden Menschen in der Regel immer Ideen, um sich zu helfen. Darunter könnten sogar Gemeinschaftssinn und Solidargefühl wieder zunehmen. Allerdings muss man das wollen und leben.
Es soll bei dieser Betrachtung gar kein düsteres Bild über die Zukunft erzeugt, sondern nur auf mögliche Potenziale aufmerksam gemacht werden, die mit einer veränderten Alterstruktur der Gesellschaft einhergehen können. Als positive Aussicht hält auch der Fakt her, dass die Thematik zeitlich begrenzt ist, nämlich durch das Aussterben der geburtenstarken Jahrgänge. Allerdings beginnt dies voraussichtlich erst Mitte des 21. Jahrhunderts.