Salonggeflüster: Lesezeit

johansen-freiWort-Coiffeur Lars Johansen

Jeder gute Frisiersalon brauchte früher ein paar bunte Blätter, die auslagen, um den Wartenden die Zeit zu verkürzen. Daher kam wohl auch der Name Zeit-Schrift, denn in der Warte-Zeit blickten die Kunden auf die Schrift. Das stimmte zwar nicht ganz, denn meistens blätterten sie nur die Seiten um und starrten auf die Bilder, aber mittlerweile wirken diese Schriften fast wie aus der Zeit gefallen.

Denn selbst die älteren Kunden haben jetzt immer ihr Smartphone dabei, mit dem sie ununterbrochen zu Gange sind. Gäbe es dort eine Frisier-App, dann kämen sie vermutlich gar nicht mehr in meinen Salon. Manchmal zeigen sie mir aber auch auf dem Display, wie sie gerne aussehen würden. Nichts gegen Helene Fischer oder Andrea Berg, die ja auch schon ein wenig älter ist, aber ich kann Oma nicht wie Mitte Zwanzig aussehen lassen, denn Fünfzig ist zwar das neue Dreißig, aber Siebzig noch nicht das neue Vierzig. Gut, wir arbeiten daran, und mit ein paar Extensions habe ich schon manche Mumie wieder ins Leben zurückgeholt, aber es gibt Grenzen. Wenn ich während des Schneidens nun Frauen fortgeschrittenen Alters dabei beobachte, wie sie bei Tinder, einer Dating-App, die alten Knispel wegwischen und sich lieber für was junges Knackiges entscheiden, dann ist das einerseits irgendwie rührend, auf der anderen Seite frage ich mich, welcher Jungspund sich ernsthaft mit einer alten Dame treffen möchte. Außer es ist seine Oma und sie hat Schokolade dabei. Oder einen Umschlag mit Geld. Wenn es genug Geld ist, dann muss es wohl nicht mal seine Oma sein, und irgendwie muss man sich doch sein Studium erarbeiten. Jetzt verstehe ich endlich, warum der Studienabschluss ausgerechnet Bachelor heißt, denn den kenne ich aus dem Fernsehen, und der will ja auch immer nur das eine. Früher hat man für ein Studium noch in der Bibliothek gesessen und gelesen. Heute reicht das Smartphone oder ein Tablet. Das hieß früher Tablett und wer das mit sich herumtrug, war der Kellner. In diesem Sinne: Ich glaube, ich brauch‘ jetzt einen Kaffee. Sind Sie hier der Kellner oder ist das nur ein Tablet?