Äpfel und Nüsse, Holzspielzeug in verschiedenen Formen, natürlich auch mal ein Buch, ein Schaukelpferd oder ein Stoffpferd befestigt auf einer Holzplatte mit Rädern, Autos und andere Figuren aus Blech, Kasper und Puppe, Zubehör für die Puppenstube – darüber freuten sich vor nicht ganz 100 Jahren Kinder an Weihnachten. Manchmal musste auch altes Spielzeug, das wieder repariert wurde oder ein neues Kleid für die bereits vorhandene Puppe genügen. „Als ich ein Kind war, da gab es zum Weihnachtsfest noch nicht solche Berge von Geschenken“, erinnert sich Ursula Roth. „Und Süßigkeiten gab es nur in Maßen – vor allem Schokolade war eine Seltenheit bei uns. Aber das waren eben noch andere Zeiten …“
Zeiten, die geprägt waren von den Wehen der Nachkriegszeit und von der Wirtschaftskrise. Zeiten, in denen es für einen Durchschnittsverdiener recht schwer war, seine Familie zu ernähren. Wie Jürgen Kuczynski im Band 5 der „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes“ schildert, erhielt ein Maurer im September 1920 einen Wochenlohn von 312,80 Mark. Das wöchentliche Existenzminimum für eine Familie mit zwei Kindern lag zur selben Zeit bei 299 Mark. Das Geld reichte also gerade für das Nötigste. Im September 1921 betrug der Maurer-Wochenlohn 377,38 Mark, das Existenzminimum hingegen 349 Mark. Ein Jahr später lag der Wochenlohn (3552,62 Mark) sogar unter dem wöchentlichen Existenzminimum (4714 Mark). Auch Anfang der 1930er Jahre sah es nicht anders aus. Arbeiter des Bergbaus, der Stahl- und der Eisenindustrie, die zu den Besserverdienenden gehörten, erhielten einen Stundenlohn von 0,85 Rentenmark. Die Preise für ein Pfund Speck betrugen in dieser Zeit 0,80 Rentenmark, für ein Pfund Ochsenfleisch sogar 1,40 Rentenmark.
„Aber egal, wie problematisch die Zeiten waren, für die Feiertage hat sich die Familie immer etwas überlegt, selbst wenn es nur eine kleine Überraschung war“, erzählt Ursula Roth. Die Magdeburgerin wurde am 11. September 1922 auf dem Werder geboren. „Bis auf die Kriegsjahre, in denen wir als Fabrikarbeiter in andere Städte geschickt wurden, habe ich mein gesamtes Leben in Magdeburg verbracht.“ Seit einiger Zeit wohnt sie in einer Pflegeeinrichtung. Ihr Körper ist im Alter von 94 Jahren doch recht müde geworden, aber ihr Geist ist noch fit. An viele Einzelheiten aus ihrer Kindheit und Jugend, die sie bei ihren Eltern in der Stadt und ihren Großeltern auf dem Dorf verbracht hat, kann sie sich erinnern.
Typisch für diese Zeit war es, sich in der Küche aufzuhalten. Die „gute Stube“ wurde nur bei besonderen Anlässen – vom Geburtstag bis zur Bescherung – genutzt. Dort stand auch, wie heute noch bei den meisten Familien, der Weihnachtsbaum. „Und den hat immer Vater am Heiligabend geschmückt“, berichtet die 94-jährige Magdeburgerin. „Mit richtigen, brennenden Kerzen. Das war seine Aufgabe, da hat sich sonst niemand eingemischt.“
Die Bescherung habe dann immer am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags bei den Großeltern stattgefunden. „Da kam die ganze Familie zusammen: Mama, Papa, die Geschwister, die Großeltern und auch Papas Schwester.“ Zum Mittagessen kam oft Hasenbraten – den Hasen hatte Ursula Roths Opa bei der Jagd selbst erlegt – und Braunkohl auf den Tisch. Am Nachmittag gab es zum Kaffee Zuckerkuchen, Cremetorte und Bienenstich, „weil den mein Großvater so gerne aß. Und abends wurde aufgetafelt, was die Großeltern vom Schlachten im Haus hatten. Ich denke, das war nicht das schlechteste …“ Weihnachtsplätzchen und Süßigkeiten habe es allerdings nicht in diesem Maße – wie etwa heute – gegeben. „Schokolade leisteten wir uns nur zu ganz besonderen Anlässen“, erzählt Ursula Roth. „Auf dem Weihnachtsmarkt haben wir uns lieber Mohnnauten für ein paar Pfennige gekauft. Oder diese kleinen Täfelchen aus Gelee – ebenfalls mit Mohn bestreut.“
Wie bei den Süßigkeiten fielen die Geschenke zur Bescherung damals auch deutlich bescheidener aus als heute. „Meistens gab es nur Kleinigkeiten, die am ersten Weihnachtsfeiertag unter den Tannenbaum gelegt wurden. Holzspielzeug oder das ein oder andere für die Puppenstube. Eine neue Puppe war schon etwas Besonderes und Seltenes“, erklärt die Magdeburgerin. Ein Geschenk ist ihr jedoch speziell im Gedächtnis geblieben. „Das muss Anfang der 1930er Jahre gewesen sein … vielleicht 1932. Da habe ich auf dem Dachboden die alten Schlittschuhe meines Bruders gefunden. Ganz rostig waren die, aber sonst noch in Ordnung. Also habe ich sie geputzt, angezogen und bin damit bei uns in der Straße, im Chaussee-Graben, gerutscht.“ Dass ihrer Tochter das viel Spaß bereitete, wussten die Eltern und schenkten ihr zum darauffolgenden Weihnachtsfest neue Schlittschuhe. „Auf die Alte Elbe habe ich mich damit nicht getraut. Allerdings gab es in der Nähe der ehemaligen Kaserne ,Ravensberg’ einen Tennisplatz, der im Winter mit Wasser gesprengt wurde. Und dort war ich häufiger eislaufen.“
Während Ursula Roth von ihrem schönsten Weihnachtsgeschenk berichtet und den kalten Wintern in den 1920er und 1930er Jahren, leuchten ihre Augen und ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Doch ihrer Mimik mischt sich auch eine gewisse Wehmut bei. „Die Schlittschuhe habe ich all die Jahre als Erinnerungsstück behalten, sie haben sogar den Krieg überstanden. Nutzen konnte ich sie danach aus gesundheitlichen Gründen jedoch nicht mehr. Aber jetzt, da ich nicht mehr in der Lage bin, meinen eigenen Haushalt zu führen, weiß ich nicht, was bei der Wohnungsauflösung aus ihnen geworden ist. Ich hätte sie gerne noch bei mir gehabt …“ Tina Heinz