Sehnsucht nach Normalität

bild_seite4Stehen uns terroristische Anschläge bevor? Steuern wir auf eine weltweite militärische Auseinandersetzung zu? Das vertraute Sein ist aus den Fugen. Das schürt Sehnsüchte.

Von Thomas Wischnewski

Ein Hauch Vertrautheit liegt über der Jahreszeit. Adventsstimmung hat ringsum Einzug gehalten. Man möchte verharren und sich dem gewohnten Gang der Dinge hingeben. Doch irgendwie ist dieser Dezember anders als in den zurückliegenden Jahren. In den guten Stuben flimmern nach wie vor täglich Nachrichten über einen nicht abreißenden Flüchtlingsstrom über die TV-Bildschirme und die politischen Auseinandersetzungen über den Weg in eine ungewisse Zukunft reißen nicht ab. Dann schlagen die Terrorakte von Paris mitten in die deutsche Unruhe und reißen die letzte Hoffnung auf die Rückkehr in einen gewohnten Alltag in den Abgrund. Jetzt ist nicht mehr nur die Welt aus den Fugen, wie man dies Tag für Tag in den Berichten zum internationalen Geschehen all die Jahre vorgesetzt bekam, sondern es sinkt das sicher geglaubte Europa in eine aufkeimende Angst vor tödlichen Schrecken. Ganze 14 Tage dauerte es, bis wir von oben verordnet über die Taten reden, die Frankreich zum Beistand gereichen sollen. Der IS-Terror, in dessen Folge bisher Millionen Menschen geflohen waren, in die Nachbarländer von Syrien und dem Irak und nun immer konsequenter auf den europäischen Kontinent, ist ins Herz des Abendlandes eingebrochen. Vor der eigenen deutschen Haustür wird er schon gesehen oder gar im Inneren vermutet.
Die Regierung verteilt Sicherheitspflaster aus beschwichtigenden Worten und schickt Aufklärungsflugzeuge ins syrisch-irakische Territorium. Wenn die Kriegsmaschinen wenigstens Aufklärung leisten könnten. Aufklärung im Sinne der großen europäischen Geister, die im 17. Jahrhundert die Ideen von mehr Gerechtigkeit säten und so bedeutsame Worte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gebaren. Doch angesichts des religiösen Wahns, der aus dem proklamierten Kalifat des Islamischen Staates über die Weltgemeinschaft, insbesondere über die Ungläubigen der Christenheit, des Judentums oder nichtgläubiger Atheisten ausgeschüttet wird, erscheint die martialische Demonstration hochtechnisierten Kriegsgerätes in der Trockenheit des Orients zu versickern.
Wage Schätzungen von kurdischen Militärexperten gehen von mindestens 200.000 IS-Kämpfern aus. Westliche Geheimdienste sehen die Anzahl konservativer und glauben an weniger als 100.000. Gemessen an der Größe aller europäischen Armeen ist die Stärke der so genannten Terrormiliz immer noch klein. Ihre Außenwirkung erscheint mittlerweile aber so groß, als würde da eine Weltmacht auf dem Vormarsch sein. Die extremistischen Islamisten drohen mit einem „heiligen Krieg“ und mit dem Sieg des muslimischen Glaubens über alle anderen religiösen Bekenntnisse. Einem Glauben mit Waffengewalt zum Durchbruch zu verhelfen, kann im pluralistischen und säkularisierten Europa nur irritieren.
Doch nun stehen wir selbst bewaffnet mitten in der Glaubensauseinandersetzung und wollen unseren Glauben an eine freiheitliche Ordnung verteidigen. Wer im Namen religiöser Überzeugungen mordet, ist zu verdammen. So sehen wir das. Aus der Sicht anderer sind unsere Lebensvorstellungen auch nur ein falscher Glaube. Kann man falsch mit falsch bekämpfen oder richtig gegen richtig? Es scheint überhaupt keine interpretierende Rechtfertigung möglich, sondern nur eine Auseinandersetzung auf dem Boden der Tatsachen. Und da sind wir auf den guten biblischen Weg „Auge um Auge“ und „Zahn um Zahn“.
Erinnert sei an die politischen Maxime Anfang der 90er Jahre. Nachdem der Kalte Krieg ein Ende gefunden und sich das kommunistische Weltreich aufgelöst hatte, da verbreitete sich überall das Wort „Globalisierung“. Wer sich dem Trend nicht stellen würde, hätte irgendwann das Nachsehen. Das Kapital war zu dieser Zeit auf dem gesamten Globus ausgezogen, um Produktionsstätten in Ländern zu errichten, in denen Investitionen schnellen Gewinn versprachen. Niedrige Löhne und geringe rechtliche Hürden haben Massenproduktionen – allen voran in Asien – aus dem Boden gestampft. Die Globalisierung machte keinen Halt vor Grenzen. Und in der Nachhut waren auch die Missionare, die unseren Glauben an Freiheit und Demokratie in Kulturen trugen, deren religiöse Verwurzelung nicht einfach päda­gogisch begegnetet werden kann. Es mag in der Vorstellung unserer Vernunft leicht erscheinen, dass eine europäische Logik mit der Kraft von Argumenten vermittelt werden könnte. Doch genau das geht eben nicht, wenn sich zwei begegnen und von der Richtigkeit ihrer geistigen Gerüste überzeugt sind. Deshalb wird dies noch nicht einmal in unseren Landesgrenzen innerhalb einer Generation als Integrationsanspruch lückenlos funktionieren. Die Radikalisierung einiger in Deutschland geborener Muslime und der Zulauf bei Salafisten ist sicher weniger aus einem Mangel an Mitnahme oder Vermittlung erklärbar, sondern vielmehr durch die Irritation, die ein offenes Weltbild vermittelt, wenn es auf ein geschlossenes, monotheistisches trifft.
Insofern haben wir genauso geistig auf dem Planeten gezündelt, wie es der extremistische Islam tut und die Waffen der Industrienationen die Konfliktareale erst recht in Brand gesetzt. Wir wissen um unsere Einflussnahme, den weltweiten Rohstoffraubbau und manch kontraproduktiver Entwicklungshilfe. Und mittlerweile wird immer deutlicher, dass selbst ein gewissenbelastetes Schuldbekenntnis keine Umkehr mehr schafft. Wir haben uns so schön in der Vorstellung eines fortwährend blühenden Deutschlands eingerichtet und dazu im Glauben eines zusammenwachsenden Europas, dass so viel Leichtigkeit im Reisen, im kulturellen und wirtschaftlichen Austausch versprach. Und jetzt können Zweihunderttausend Anhänger einer Terrorgemeinschaft ein 300 Millionen Menschen zählendes Völkerbündnis ins Wanken bringen. Es klingt absurd, doch das Knirschen im Gebälk des Hauses Europa ist vernehmbar. Obwohl die europäische Gemeinschaft, Russland, die USA und viele andere posaunen, im Feindbild über den IS einig zu sein, gelingt es der gewaltigen Kraft dieser Nationen nicht, die Finanz- und Waffenströme der Terroristen auszutrocknen. Was läuft da schief? Warum gibt es in der allwissenden Sphäre der hochgerüsteten Industrieländer mit ihren in alle Bereiche dringenden Geheimdienste keine schlüssigen Antworten auf diese Frage? Krieg heißt auch, dass der Tod über mehr Unschuldige als Schuldige kommt. Und diese haben Familien und Freunde, die mit Hass und Rache infiziert werden. Nach den Urschuldigen zu fragen, wer wann was als erster falsch gemacht hat, bringt nichts mehr. Das Klima ist ohnehin versaut. Man sperrt die Ohren auf und vernimmt in der heimischen Umgebung den Unmut über die permanente Nachrichtenflut zur Terrorbekämpfung und Flüchtlingskrise. Am liebsten möchte man die anhaltende Verbreitung all dieser Berichte abschalten. Doch sie sind auf allen Kanälen, im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen und im Internet sowieso. Wo ist die Normalität aus Fußballergebnissen, Showstar-Allüren, Bespaßungssendungen, Werbespots und moralischen Appellen hin?
Was ist eigentlich mit den Kämpfen in der Ukraine? Von der kränkelnden Weltwirtschaft und den schnell verschnupften Finanzmärkten hört man auch kaum etwas. Ach so, das Klima ist gerade auf der Flucht, weil sich derzeit 150 Staatschefs zum Weltklimagipfel in Paris versammeln. Hohe Erwartungen lasten auf der Zusammenkunft, weil man dort auf eine internationale Vereinbarung hofft, auf deren Grundlage die CO2-Emissionen weltweit deutlich reduziert werden sollen. Sicher gibt es einen Kompromiss. Politik ist halt immer normal.
Indes wird die politische Landschaft in Deutschland bunter. Neben der CDU wächst das Gewicht der rechtskonservativen Kräfte um die AfD. Die Aktiven um Parteivorsitzende Frauke Petry verkörpern offensichtlich eine starke Sehnsucht nach einem national-anheimelnden Rückzug, weg von einem unübersichtlichen Europa. In Polen vollzieht man dies aktuell schon. Andere osteuropäische Staaten sind auf einem ähnlichen Kurs bzw. rufen laut danach. Unordnung verdrängt die Ordnung, die sich in den friedlichen Jahrzehnten so schön ausgebreitet hatte. Man hätte tatsächlich glauben wollen, die Welt wendete sich immer mehr zum Guten. Doch im abendländischen Verständnis darüber, dies wäre eine automatische und logische Entwicklung, gebiert die Menschheit Irrationalität in ausufernden Konflikten. So wie mancher wenige Verschwörer sehen wollen, die allein die zündelnde Verantwortung für katastrophale Folgen tragen sollen, sehen andere einen schicksalhaften Prozess, dem man ohnmächtig gegenüber steht. In der Menschheitsgeschichte war es selten eine Mehrheit, die für große Veränderungen sorgte. Die Oktoberrevolution in Russland ist von einer Minderheit angefacht worden, genauso wie die Nazis 1933 keine Mehrheit unter den Deutschen hatten. Normal bewegt eben wenig.
Die große Mitte einer Gesellschaft will ihren Aufgaben und Notwendigkeiten nachgehen, den Alltag meistern und Ruhe finden. Die aktuelle Weltlage entfacht eine Sehnsucht nach Normalität. Vielleicht klammern wir uns in diesem Jahr deshalb noch ein wenig mehr an die Rituale zur Weihnachtszeit. Wiederkehrende Vertrautheit schafft Ruhe im Geist. Aber die Welt ist nicht normal. Wie wir bisher in Deutschland und überwiegend in Europa lebten, ist im Vergleich mit der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung eher nicht normal. Spüren wir jetzt nur deutlicher die normalen Konflikte der Menschheit? Vertrautes war gestern, normal schon immer eine Illusion.