Wie gerne denke ich an meine Studienzeit zurück. Freiheit. Großstadt. Abenteuer. Zwar hatte man mehr Zeit als Geld, aber es ließ sich doch recht unbeschwert leben. Meine Mitbewohnerin und ich hatten eine schöne Wohnung in einem sanierten Altbau bezogen und studierten so vor uns hin. Alles verlief in normalen Bahnen, hätte meine nächste Nachbarin, also meine Mitbewohnerin – fortan als M. bezeichnet – nicht diese merkwürdige Krankheit gehabt. TDOTS (kurz für Tag-der-offenen-Tür-Syndrom) nennt die sich und ist wohl weitestgehend unerforscht.
Bei M. äußerte sich diese Krankheit so: Wenn es an der Haustür klingelte, wurde geöffnet. Der entsprechende Knopf an der Türsprechanlage wurde betätigt, ohne nachzufragen, wer denn da überhaupt sei und aus welchem Grund. Wer weiß, wer sich in dieser Zeit im Haus herumgeschlichen hat… Ein ähnliches Prozedere, wenn an der Wohnungstür geklingelt oder geklopft wurde. M. riss die Pforte zu unserem kleinen, liebevoll gestalteten Reich auf, ohne einen Blick durch den Spion zu werfen. Ganz nach dem Motto: Mi casa es su casa. Herein spaziert, fühlt euch wie zu Hause. Vielleicht hätte sich durch das Schauen mehrerer Horrorfilme oder Kriminalserien ihre Vorsicht stärker ausgeprägt. Aber zum Glück klopfte nie ein Psychopath an unsere Tür…
Nur mehr oder minder harmlose Nachbarn, Paketzusteller, Klinkenputzer aller Art und in einigen Fällen sogar Freunde. Dass M. unter TDOTS leidet, war mir das erste Mal bewusst geworden, als neue Nachbarn bei uns vorbeischauten. Was eigentlich ungewöhnlich war, da viel Jungvolk das Haus besiedelte, die Fluktuation recht hoch war und die Brot-und-Salz-Tradition in keiner Weise gepflegt wurde. Es klingelte also an der Wohnungstür und M. ging zielgerichtet mit dem Handy am Ohr durch den kurzen Flur, um zu öffnen – als erwarte sie eine Freundin oder einen Freund. Mit dem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung redend, gestikulierte sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten, um der Person im Treppenhaus etwas verständlich zu machen. Dann ließ M. die Tür offen stehen und ging in ihr Zimmer, aus dem sie jedoch nicht so schnell wieder herauskommen sollte, wie sich nach einigen Minuten erwies.
Stille im Flur. Ich stand – an den Rahmen meiner Zimmertür gelehnt – und blickte verwirrt und unsicher drein. Ein leises Geräusch, das sanfte Rascheln von Kleidungsstücken. Bewegung. Zwei Kinder mit rotblondem Haar kamen in mein Sichtfeld, als ihre Mutter sie durch den Wohnungseingang bugsierte. Erleichtert atmete ich leise aus. Auch die Mutter wirkte verunsichert, rang sich jedoch nach kurzem Warten dazu durch, eine Erklärung abzugeben. Sie seien nebenan eingezogen, verriet sie mit russischem Akzent. Leider hätten sie kein warmes Wasser. Ob wir ihnen helfen könnten? Aber natürlich! Ich befüllte einen Eimer, drückte ihr diesen in die Hand und gab ihr zu verstehen, dass sie sich Nachschub holen könne. Die Wohnungstür ließ ich deshalb einen Spalt geöffnet. Spielte ja sowieso keine Rolle…
Auch ein anderer Nachbar konnte unbehelligt unseren Wohnungseingang passieren. Klingeln, Tür öffnen, herein spaziert. Natürlich könne er seine Pflanzen für ein paar Tage von uns babysitten lassen, hörte ich M. sagen. Als ich aus meinem Zimmer trat, hatte sie die beiden grünen Gestrüppe schon bereitwillig in Empfang genommen und lauschte seiner Erklärung, was denn zu beachten sei. Nachdem er sich höflich bedankt und verabschiedet hatte, fragte ich M.: „Weißt du eigentlich, was das ist?“ Nein, natürlich wusste sie es nicht. Und ich bat sie, die Pflanzen doch an ihrem Fensterbrett zu deponieren. Nur für den Fall, dass die Polizei nachfragen sollte…
Am meisten haben mich wohl damals die Tage der offenen Tür beunruhigt, an denen die Zeugen Jehovas bei uns gastierten. Leider war ich selbst nicht zugegen, doch M. hatte ein paar Mal erwähnt, dass Vertreter der Religionsgemeinschaft an unserer Tür geklingelt hatten. Genauer nachzufragen, war mir damals nicht eingefallen. Weil ich mir nicht vorstellen konnte oder wollte, dass sich M. in ein längeres Gespräch verwickeln ließ. Doch wie sich herausstellen sollte, wussten die Damen und Herren genau Bescheid. Eines Tages kreuzten sie sogar mit einer Chinesin bei uns auf – irgendwie war ihnen wohl zu Ohren gekommen, dass wir beide Sinologie studierten. Nur war ich mir nicht sicher, ob ich mit einer Chinesin so tiefgründig über die Bibel plaudern könnte – und ergriff die Flucht. Fortan waren wir jedenfalls Bezieher des ‚Wachturms‘. Und dieses „Abonnement“-Verhältnis konnte nur durch unser beider Auszug nach dem Abschluss des Studiums beendet werden. Tina Heinz