Tier und Mensch

tierweltWelch Vielfalt an Tierarten! Aber eine „Tier“-Art erhebt sich über alle anderen, beobachtet und kategorisiert sie – der Mensch. Er beeinflusst das Sein
seiner Mitgeschöpfe und ist doch schicksalhaft mit allen verbunden.

Von Gerald Wolf

Seit etwa zwei Milliarden Jahren gibt es Tiere auf der Erde, uns Menschen erst seit ein paar Millionen Jahren. Oder, bei enger Auslegung des Artbegriffs, sogar erst seit ein-, zweihundertausend Jahren. Was eigentlich ist „das“ Tier? Bei weitem nicht nur, was sich da in Haus, Hof und Garten tummelt oder im Zoo. Auch Korallen und Seerosen und Schwämme gehören dazu – Lebewesen, denen man zunächst gar nicht anmerkt, dass es sich um Tiere handelt. Ebenso zu denken ist an all das Krabbelzeug, das sich nur unter dem Mikroskop zu erkennen gibt: Rädertierchen, Trompetentierchen, Amöben, Augentierchen, winzige Fadenwürmer, Bärtierchen, Milben. Aus der Sicht der Biologie gibt es sehr wenig, was „das“ Tier von sonstigen höheren Lebewesen unterscheidet. Hiernach ist Tier, was sich von anderen Lebewesen ernährt, also nicht wie die Pflanzen, die ihre Energie für den Stoffwechsel und den Aufbau ihres Organismus aus dem Sonnenlicht beziehen. Und eine zweite Gemeinsamkeit haben die Tiere: Sie sind keine Pilze. Mehr an Unterscheidbarem gibt es nicht. Und wenn schon Tiere, was dann ist der Unterschied zwischen Tier und Mensch? Konrad Lorenz, der große Verhaltensbiologe des vorigen Jahrhunderts und einer der größten Seher unserer Zeit, antwortete darauf mit einer Gegenfrage: „Was verstehen Sie unter Tier? Meinen Sie die Amöbe oder den Schimpansen?“ Er wusste damals schon, was wir heute dank der modernen Genetik noch viel sicherer wissen, nämlich dass die Schimpansen als Tiere mit uns Menschen viel näher verwandt sind als mit allen anderen Tieren. Selbst ihre nächsten tierischen Verwandten, die Menschenaffen vom Schlage der Gorillas und der Orang-Utans, stehen ihnen nicht so nahe wie wir Menschen. – Keine Frage, aus Sicht der Zoologie sind wir Tiere.
Wenn der Mensch also zu den Tieren zählt, dann sind wir gerade mal eine von vielen, von sehr vielen Arten. Niemand weiß genau zu sagen, wie viele es gibt. Schätzungen zufolge sind es zwischen drei und dreißig Millionen, manche Wissenschaftler beziffern die Anzahl der Tierarten mit 100 Millionen. Gelistet aber sind bisher nur 1,4 Millionen Arten. Ständig kommen neue hinzu, und ständig gehen andere verloren. Beängstigend schnell gehen sie verloren, und zwar in dem Maße, indem sich unsere Erde verändert. Eine einzige, wenngleich besonders erfolgreiche Tierart sorgt dafür, dass das passiert. Es ist eine von den etwa 250 Affenarten. Sie ahnen es: Der Mensch ist es, wir sind es, und das dank unserer Intelligenz. Hier und da ist die Erde durch den Menschen schöner geworden, meist aber hat er sie verhunzt. Das über alle Maßen mit Vernunft begabte Tier hat sie entwaldet, verbaut, verödet, versandet, vergiftet, und alles zudem mit zunehmender Geschwindigkeit. In seinem Gestaltungseifer konkurriert der Mensch mit all den Tieren und Pflanzen, die längst vor ihm da waren. Einige wenige Pflanzen- und Tierarten züchtet und kultiviert er, und diese dann in Massen, weil er sie für seine Ernährung braucht, weil er sie als schön oder als interessant empfindet oder sie liebkosen möchte. Dafür werden all die anderen Kreaturen weniger, und viele verschwinden ganz. Sehr viele. Manche langsam, andere rasend schnell.
Zur Vielfalt der Tiere, wie sie sich schon bei der Betrachtung von außen her zu erkennen gibt, kommt die ihrer inneren Natur hinzu. Der Zugang ist zumeist schwierig, spezielle und zum Teil sehr teure Techniken werden dafür gebraucht und all die besonderen Kenntnisse und Fertigkeiten, die ein entsprechendes Hochschulstudium erfordern. Was sich dann dem Betrachter zeigt, ist zumindest ebenso fesselnd. Die meisten Organismen bauen sich aus Hunderten, Millionen oder gar Billionen von Zellen auf. Jede dieser Zellen ist bis zu einem gewissen Grad ein eigenständiges Lebewesen. Ein Mensch z. B. besteht aus etwa 200 Billionen systemhaft zusammenwirkender Zellen, die ihrerseits 200 bis 300 verschiedenen Zelltypen zuzuordnen sind. Jede einzelne dieser Zellen synthetisiert in ihrem Stoffwechsel Tausende und Abertausende Molekülsorten, die jeweils ganz spezielle Zwecke erfüllen. Diese Moleküle stehen untereinander in mannigfaltigen Stoffwechselbeziehungen, in ihrer Gesamtheit als Metabolom bezeichnet. Trotz intensivster Forschungsanstrengungen ist dieses Miteinander bisher nur ansatzweise verstanden. Die im Erbgut (Genom) molekular verschlüsselten Informationen spielen für die Synthese und den Wechsel der Stoffe eine entscheidende – wenn auch nicht die alles entscheidende – Rolle. Bei der Strukturgebung der Zellen, Gewebe und Organe und deren Funktionsmechanismen gibt das Erbgut ebenfalls den Ton an, und es diktiert, ob und wie aus einer Fortpflanzungszelle ein Buschwindröschen oder ein Mensch oder ein Pantoffeltierchen wird. Störungen der molekularen und zellulären Naturgegebenheiten bedeuten im Regelfall Krankheit, deren Wiederherstellung Heilung.
Ein wahrhaft umfassendes Verständnis dessen, was „Natur“ ist – die Natur in allen ihren Feinheiten also und der Filz von Wechselbeziehungen im Kleinen und im Großen –, würde das menschliche Vorstellungsvermögen hoffnungslos überfordern. Trotz gigantischer Detailkenntnis sind wir noch immer fern davon, die Gesamtheit des Chemismus auch nur einer einzelnen Zelle zu verstehen, geschweige denn die des Zusammenwirkens ihrer Verbände innerhalb eines Organismus. Schon wenn wir das Gehirn einer Mücke in allen seinen funktionsbeladenen Details begreifen wollten, erst recht deren schier unendliche Kombinatorik, würden wir an Erkenntnisgrenzen der grundsätzlichen Art stoßen. Um wie viel mehr gilt das für die Erkundung unseres eigenen Gehirns mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen, den etwa ebenso vielen kooperierenden Gliazellen und ihrer „überastronomisch“ hohen Anzahl von Verschaltungsmöglichkeiten! Aus der Struktur des Gehirns und der hochkomplexen Arbeitsweise seiner Teile ergibt sich das, was wir nach außen hin als das Verhalten wahrnehmen, das eines Tieres wie auch das eines Menschen, als dessen Persönlichkeit, Charakter und Temperament. Zumindest wir Menschen nehmen über unsere Sinne nicht nur das wahr, was uns von außen her an Reizen herangetragen wird, sondern wir verbinden all diese Informationen auf eine höchst sonderbare Weise mit Gefühlszuständen. Bei der Innenschau verschmilzt all das zu einem Ganzen, das wir als Seele bezeichnen, als Geist. Diesem Geist und der ihm eigenen Intelligenz verdanken wir die Kulturfähigkeit. Sie ist es, die uns in der Erkenntnis und der Gestaltung der Welt, von uns selbst und unserer Gesellschaft, allen anderen Lebewesen überlegen macht. Himmelhoch überlegen. Daher auch verdienen wir ein hohes Maß an Selbstrespekt, mithin den Namen, den wir uns selber zugedacht haben: Homo sapiens (der kluge, der weise Mensch). Indes, vieles deutet darauf hin, dass uns für die Handhabung dieser Weisheit ein Stück Weisheit fehlt. Das alles entscheidende Stück!
Denn: Mit den stetig wachsenden technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten entfernen wir uns immer weiter von unseren natürlichen Voraussetzungen. All die Wirkungen, die auf Wohlstandsmehrung und Zufriedenheit („Glück“) abzielen, haben Nebenwirkungen. Daraus ergeben sich im Kleinen wie im Großen Wirkungsgeflechte, deren Folgen im Fortschreiten immer weniger zu überschauen sind. Apokalyptische Ausmaße sind zu erahnen. Von größter Brisanz dabei ist das weltweite Bevölkerungswachstum. Die ursprüngliche Natur existiert nur noch in Resten, und was ihr abgerungen wurde und wird, leidet unter Übernutzung. Die Folge ist bei anhaltendem Wachstum und sich ständig erhöhenden Lebensansprüchen eine die gesamte Menschheit bedrohende wechselseitige Konkurrenz. Zusammen mit den eskalierenden technischen Möglichkeiten und der praktisch ungehinderten Verbreitung hocheffektiver Waffen entwickelt sich ein immer schwerer zu beherrschendes Selbstvernichtungspotenzial. Es wächst und wächst, weil unsere Weisheit nicht mitwächst. Trotz des „sapiens“ im Artnamen. Und die Weltpolitik ist hilflos.
Auch wenn alles nach einem Ende mit Schrecken aussieht, noch ist selbst unsere engere Umwelt reich an Tier- und Pflanzenarten. Schauen Sie sich in Ihrem Garten um Verehrte Leserin, verehrter Leser, oder noch besser: Gehen Sie hinaus vor die Tore unserer Stadt, und Ihnen wird mehr an organismischer Vielfalt begegnen, als Sie jemals geistig erfassen können! Etwa 4.000 Arten an Höheren Pflanzen harren Ihrer Bekanntschaft, 100 Farn-, 1.000 Moos- und 2.000 Flechtenarten sowie 4.000 bis 5.000 Arten Höhere Pilze. Nicht zu vergessen die „niederen“ Organismen – Tiere, Pilze und Pflanzen, die nur aus einer einzigen Zelle bestehen oder aus nur wenigen hundert oder tausend. Noch bunter sieht die Welt der Bakterien aus. Von der womöglich in die Vielmillionen gehenden Artenanzahl kennt die Wissenschaft bisher nur einen Bruchteil. Und heimische Tiere? Etwa 50.000 (!) Arten kommen in Deutschland vor, meistenteils Insekten. Darunter 9.000 Fliegen und Mücken, 8.000 Käfer und 4.000 Schmetterlinge. Den Rekord hält mit 11.000 Arten die Ordnung der Hautflügler. Zu ihr gehören die wiederum in viele Arten untergliederten Wespen, Bienen, Ameisen, Grabwespen, Hummeln, Schlupfwespen, Gallwespen, Kuckucksbienen und Blattwespen.
Zur Vielfalt dieser Lebewesen kommt die der Landschaftsformen hinzu, die der Boden- und der Gewässertypen und auch die der Klimate. Das Meso-Klima in einem Wald zum Beispiel und das im Uferbereich eines Sees oder das Mikro-Klima unter einem Blatt oder in einem Ameisenhaufen. All das ist Um-Welt, ebenso wie es die unvorstellbar komplexen Wechselbeziehungen der Organismen untereinander sind. Die unterschiedlichsten Pflanzen- und Tiergesellschaften ergeben sich daraus – und unbegrenzte Beobachtungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für den (wie altväterlich das klingt!) „Naturfreund“.

Gerald Wolf 2Der Autor:
Prof. Dr. Gerald Wolf, Studium der Biologie und Medizin, bis zu seiner Emeritierung 2008 Direktor des Instituts für Medizinische Neurobiologie an der hiesigen Universität. Hunderte Publikationen, darunter drei Romane: „Der HirnGott“ (2005, 2008, 2014), „Glaube mir, mich gibt es nicht“ (2009, 2015) und „Das Liebespulver“ (2013).