Trümper: Mitarbeiter sind am Limit

2015_10_08_BgI_Asyl_Presse_1-4Rede von Oberbürgermeister Dr. Lutz Trümper zur Flüchtlingssituation in Magdeburg; Stadtrats-Sitzung am 8. Oktober 2015 (Auszug)

… Die aktuelle Debatte ist von mir beantragt worden, weil ich glaube, dass es höchste Zeit ist, dass wir uns im Stadtrat mit dem Thema befassen, denn dieses Thema wird uns in den nächsten Jahren in allen Bereichen der Stadt intensiv begleiten und fordern und man muss die politische Diskussion dazu führen können, ohne dass, wenn jemand seine Meinung sagt, der andere dies als Schwarzmalerei bezeichnet und damit bezichtigt …
Die letzte große Diskussion dazu hat Anfang der 90iger Jahre stattgefunden, als nach der Balkankrise ca. 440.000 Menschen nach Deutschland gekommen sind. Und diese heftige Debatte, die auch auf Parteitagen geführt wurde – ich war selbst dabei – führte zum Asylkompromiss des Artikels 16a des Grundgesetzes. Die dort enthaltende Änderung war die Definition der sicheren Herkunftsländer und die Drittstaatenregelung …
Wie z.B. eine Familie, in der es inzwischen 9 Kinder gibt, der Vater aber absolut integrationsunwillig ist, kein Deutsch gelernt hat, keine Arbeit aufgenommen hat – diesen kann auch keine Integrationszusage gegeben werden. Die wird nur gegeben, wenn Integrationsbereitschaft erklärt wird – nämlich die deutsche Sprache gelernt wird und Arbeit aufgenommen wird. Falsch war es, den in die Balkanstaaten Zurückgekehrten nicht geholfen zu haben mit wirtschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen. Die heutigen Verhältnisse sind dort teilweise erbärmlich. Menschen leben in Hütten ohne Strom, ohne Wasser, ohne alles …
Ich möchte jetzt an eine erst kürzlich geführte Diskussion zur Familie Haji erinnern. Das war 2014. Die Stadtverwaltung hatte sich erlaubt, nach deutschem Recht jemanden abzuschieben, der über Italien zu uns kam. Eine Woche später war er wieder da. Wir wurden für unser Handeln in den Zeitungen und Medien extrem angegangen. Politische Diskussionen sind geführt worden darüber, wie schlimm es in Magdeburg zugeht … Die Resultate kennt jeder. Das gehört auch zur Wahrheit dazu, zu sagen, wie wir agiert haben, wie wir mit dem in Deutschland geltenden Recht umgegangen sind …

2015_10_08_BgI_Asyl_Presse_1-5Das Asylverfahren, was wir aktuell haben, ist aus meiner Sicht absolut unpraktikabel. Denn das Abschiebeverfahren mit den beteiligten Behörden funktioniert in Wirklichkeit nicht. Das zeigen alle Zahlen. Bei allem Bemühen, aber mit Gerichtsverfahren, mit Durchführung, mit In-3-Tagen-wieder-hier-sein, Folgeantrag stellen können – ist Abschiebung praktisch nicht durchführbar.  Das muss man zur Kenntnis nehmen und deshalb fehlt mir für die aktuelle Forderung, die Verfahren zu beschleunigen und massenweise abzuschieben, die Fantasie, wie das praktisch zu machen ist. Wie sollen so 500.000 Menschen abgeschoben werden? Abholen zu Hause, Ticket bestellen, ins Flugzeug setzen, ärztliche Begleitung gewährleisten, Ordnungsamt  beteiligen – wie soll das für diese große Anzahl funktionieren?
Am 23. Januar 2015 gab es beim Ministerpräsidenten den ersten Asylgipfel unter Beteiligung von Abgeordneten, Landräten, Spitzenverbänden, Kirchenvertretern. Wir waren dort auch vertreten und haben schriftlich folgende Forderungen eingereicht. Ich zitiere: „ Der Dissens bei den prognostizierten Zahlen ist aufzulösen.“ Schon damals war unklar, von welchen Zahlen wir eigentlich ausgehen sollten bei der Herstellung von Unterkünften.
Dann haben wir geschrieben: „Die Neuregelung der Verteilung von Personengruppen mit Aufenthaltsrecht sicherer Herkunftsländer soll vorgenommen werden.“ Weiter haben wir eine Aufnahmeerweiterung der ZASt gefordert. Im Januar! Und weiter haben wir die Sicherung der gesundheitlichen Erstuntersuchung (Röntgen Impfung, AIDS-Test) Zeitenerstattung der Mehraufwendung usw. für die gesetzlichen Regelungen, die wir vollzogen haben, gefordert. Danach ist mehr als ein halbes Jahr nichts passiert. Erst jetzt versucht man, das alles in Gesetze zu packen, denn Abwarten und Nichtstun hat dazu geführt, dass wir mit den geltenden Methoden nicht mehr klar kommen …

2015_10_08_BgI_Asyl_Presse_1-6Am selben Tag hat der Ministerpräsident eine aus meiner Sicht fatale Formulierung gemacht, indem er das Thema Asyl und Zuwanderung mit dem Thema Arbeitskräftemangel kombiniert hat. Er tat so, als ob die Arbeitskräftesituation über das Thema Asyl gelöst werden kann. Das hat damit aber überhaupt nichts zu tun. Weil im Asylverfahren die Qualifikation keine Rolle spielt, sondern ich gewähre den Menschen, die in Not sind und verfolgt werden Asyl. Und das ist immer befristet. Es gibt kein unbegrenztes Asylrecht … Das macht es aktuell auch schwierig, Unternehmen zu bewegen, Flüchtlinge einzustellen. Denn niemand weiß, was in zwei bis drei Jahren in dem jeweiligen Land sein wird … Aber das könnte gesetzlich geregelt werden. Derzeit ist es das nicht! Dann sind wir alle Ende Juli in den Sommerurlaub gegangen. Zu dem Zeitpunkt hatten wir uns auf ein Verfahren verständigt, die Einrichtungen anzumieten und auszustatten, um die prognostizierten ca. 900 Flüchtlinge bis Jahresende aufnehmen zu können.
Im August nach dem Urlaub war alles anders. Wöchentlich wurden und werden neue Zahlen genannt. Von 8.000 wurde inzwischen auf 30.000 und jetzt auf X erhöht. Von 30.000 müsste Magdeburg 3.420 aufnehmen. Wir hatten aber im Januar schon 1.300! Bei allen Berechnungen wird auch immer nur von den neu Ankommenden ausgegangen. Die schon da waren, werden in der ganzen Finanzierungsberechnung nie berücksichtigt! Ich weiß nicht, wer die bezahlen wird! Von daher stimmen die Zahlen, die genannt werden und die in Berlin verhandelt werden, nicht. Die unterstellen nämlich, dass im nächsten Jahr 400.000 kommen, für das ganze Jahr, oder 800.000 für fünf Monate. Wir wissen bereits heute, dass die fünf Monate Bearbeitungszeit erst ab Antragstellung gilt. Wir kriegen aber heute Menschen, die einen Termin zur Antragstellung im März in Halberstadt haben. Die Zeit bis März muss aber auch berechnet und bezahlt werden …

2015_10_08_BgI_Asyl_Presse_1-7Bis zum 24. September wurden im Fernsehen die Bilder der Massen, die an die Grenzen drängen, gezeigt. Seit diesem Tag nicht mehr. Trotzdem kommen die Menschen noch. Jeden Tag kommen 10.000 Menschen nach Deutschland und müssen jeden Tag versorgt werden. Und wir müssen dabei bleiben in der Stadt und der Stadtverwaltung, dass wir die Menschen menschlich behandeln, ihnen auch so begegnen, wie sich das für jeden anderen Magdeburger auch gehört. Und dass wir jede rassistische, menschenverachtende  Äußerung verurteilen und schon gar verurteilen, wenn jemand handgreiflich wird, Gewalt anwendet, Unterkünfte anzündet …
Trotzdem kommen wir an die Grenzen dessen was man leisten und machen kann. Das habe ich bereits in einem Interview am 5. September gesagt. Bei der Geschwindigkeit der Aufnahmen kommen wir an unsere Grenzen. Wir sind in Magdeburg natürlich nicht an unseren Grenzen, wenn es um die Unterbringung von 3.000 Menschen geht. Wenn wir jedes Jahr 1.000 Flüchtlinge aufnehmen, könnte das ordentlich geplant werden, sowohl die Unterbringung, als auch die Vermittlung von Wohnungen. Das ist aber aktuell nicht der Fall …
2015_10_08_BgI_Asyl_Presse_1-8Ich komme nochmal zu Fragen des  Asylrechts: … Die Genfer Flüchtlingskonvention schützt keine Wirtschafts- und Umweltflüchtlinge … Auch Bürgerkriegsflüchtlinge, die aufgrund allgemeiner Kriegsgefahren flüchten, unter dem Schutzbereich des humanitären Völkerrechts, sind nicht vom Anhörungsbereich der Flüchtlingskonvention gedeckt … Es ist doch fraglich am Beispiel Syriens, wer bei den Kämpfen der Rebellen gegen den IS der Verfolgte ist. Es kann nicht sein, dass die UN erklärt, dass alle aufgenommen werden müssen, egal aus welcher Bürgerkriegspartei. Denn die Flüchtlingskonvention entstand 1951 nach dem 2. Weltkrieg für Diejenigen, die von einem Staat, nicht aber von verschiedenen Gruppierungen aus den genannten Gründen verfolgt werden. Deshalb sind jetzt Sonderregelungen zu treffen … Aktuell wurde bekannt, dass Bund und Länder sich geeinigt haben. Der Bund schafft 40.000 Erstaufnahmeplätze und das Land 10.000. Aber die Arbeit der Kommunen und der Verwaltungen beginnt dann erst. Wenn die Menschen bei uns bleiben, brauchen wir Arbeitsmöglichkeiten. Bei derzeit 17.000 Langzeiterwerbslosen in Magdeburg ist dies begrenzt. Die wirklich freien Stellen in Magdeburg sind überschaubar. Von den 2.000 freien Stellen sind 700 Leiharbeitsplätze. Wir sollten allerdings auch sagen, was ist wirklich machbar bei uns? … Wir müssen uns auch Gedanken machen, wie wir die nächsten Schritte bewältigen, die da heißen Schaffung von Kindergarten- und Schulplätzen, Schaffung von Wohnungen …
Wir haben also eine gigantische Aufgabe vor uns und die Pflicht, das gemeinsam zu diskutieren, auch andere Meinungen zuzulassen und nicht das Gesicht zu verziehen, wenn einer mal was sagt, was dem Anderen nicht passt … Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir heute noch einen Beschluss über die nächsten anzumietenden Unterbringungseinrichtungen zu fassen haben. Ich bleibe aber dabei, dass wir in Magdeburg keine Sporthallen oder andere Hallen für die Flüchtlingsunterbringung nutzen werden. Es gibt fast täglich Anfragen, ob wir die Stadthalle oder die Messehallen freigeben können. Ich lehne dies weiterhin kategorisch ab. Damit Sie eine Vorstellung bekommen, um welche Aufnahmedimension es sich derzeit handelt: Wir haben in Olvenstedt einen Block mit viel Diskussion und Aufwand freigegeben und von der Wobau herrichten lassen, in dem jetzt 150 Flüchtlinge leben. Wenn der gesamte Brunnenhof genutzt würde, wären dies 600 Plätze, d.h. ein Quartier mit vier Blöcken löst mein Problem von einem Monat. Im nächsten Monat würde ich aber wieder vier Blöcke benötigen und im übernächsten Monat ebenso! Diese Blöcke gibt es in Magdeburg nicht. Formal richtig ist die Aussage, dass Magdeburg 10.000 leer stehende Wohnungen hat. Diese sind nur nicht in wenigen Tagen herzurichten.
Wenn wir – das wäre ja die ganz große Chance, die wir als Stadt hätten – sicher wüssten, Flüchtlinge bleiben jetzt zehn Jahre hier, dann könnte man die schönen Häuser in Salbke oder Westerhüsen sanieren und den Flüchtlingen als Wohnungen anbieten. Der Eigentümer dieser Häuser muss dies aber sicher wissen, denn er muss einen Kredit aufnehmen … und muss sicher sein, dass die Mieteinnahmen noch in zehn Jahren fließen … Und wenn die Privaten das jetzt angehen würden, wäre längst nicht klar, ob das für 4,60 Euro/m2 machbar wäre.
2015_10_08_BgI_Asyl_Presse_1-9Unsere Unterkunftsrichtlinie gilt eben auch für die bleiberechtigten Flüchtlinge, die über das Hartz IV-System Wohnungen bekommen. Intern wird schon mal diskutiert, ob wir von diesem Niveau abweichen können. Ich sage klar Nein! Wenn ich keinen Aufstand in der Stadt provozieren will, kann ich in diesem Punkt nicht differenzieren zwischen den anderen 18.000 Bedarfsgemeinschaften und den Flüchtlingen …
Wir sagen, wir machen keine Grenzen zu, aber verlangen in Wirklichkeit, das sollen die Türkei und Griechenland tun, damit keiner mehr nach Deutschland kommen kann. Das ist doch die Wahrheit, die wir zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist allerdings auch ein stückweit die Systematik, die im Schengenabkommen steht, nämlich, dass die EU-Außengrenzen geschützt werden und in diesen Ländern der Erstaufnahme das Asylverfahren durchgeführt wird. Dieses Verfahren wurde am 4. September ausgesetzt mit der Entscheidung, zu genehmigen, dass die Registrierung in diesen Ländern nicht erfolgt ist und man nach Deutschland einreisen konnte ohne Registrierung. Und jetzt ist es äußerst schwierig, die Länder wieder zurückzuholen auf den Pfad. Trotzdem bleibt es dabei, dass wir auf kommunaler Ebene eine Aufgabe zu erfüllen haben, die menschlich nachzuvollziehen ist und die wir nach bestem Wissen und Gewissen und mit aller Empathie durchführen werden. Bisher ist alles vernünftig gelaufen! Trotzdem müssen wir uns keine Illusionen machen, dass es in den nächsten Wochen und Monaten so weitergeht. 700 und mehr Flüchtlinge pro Monat aufzunehmen, ist nicht so einfach zu lösen … Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit dieser Aufgabe befasst sind, sind am absoluten Limit. Wenn diese am Nachmittag – also eigentlich zum Feierabend – einen Anruf bekommen, dass bis 23 Uhr Flüchtlinge zu verteilen sind, dann wird es schwierig. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren schon den ganzen Tag im Dienst und haben ihre Arbeit erledigt.
Aber wir jammern nicht rum, … aber wir haben auch das Recht, auf die Probleme hinzuweisen. Wir haben z.B. heute früh die Liste bekommen mit den ca. 100 Personen, die heute Abend ankommen und untergebracht werden müssen. Wir haben erfahren, dass die ärztliche Untersuchung der Flüchtlinge in der ZASt Halberstadt nicht mehr vollständig erfolgt. Wir kriegen möglicherweise also Flüchtlinge, die ohne ärztliche Untersuchung herkommen. Also habe ich heute Morgen einen Brief geschrieben, dass ich diese Personen nicht annehmen werde. Dieses Risiko kann ich nicht tragen! Es ist gesetzliche Pflicht der Erstaufnahmeeinrichtung, die ärztliche Untersuchung durchzuführen. Nicht nur meine Mitarbeiter, die heute Abend die Flüchtlinge in unseren Dienstautos auf die Einrichtungen verteilen, müssen sicher sein, dass nichts passiert, dass sie keinen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind … So, wie es jetzt aktuell läuft ist der Prozess in der Geschwindigkeit nach deutschem Recht nicht beherrschbar … Wenn jetzt das Zurückschicken beschleunigt werden soll, kann es passieren, dass Menschen aus dem Kosovo, die schon mehrere Jahre hier sind, gut Deutsch sprechen, deren Kinder in die Kitas oder in die Schule gehen und vielleicht eine Lehrstelle oder sogar Arbeit haben, zurück müssen, obwohl sie gut integriert sind …
Derzeit sind 80 Prozent der Flüchtlinge allein reisende junge Männer. Wir wissen was passieren kann, wenn eine große Gruppe von Männern  wie z.B. bei der Armee in einer Kaserne oder eben in einem Lager untergebracht ist. Da ist Integration und Unterbringung in Wohnungen besonders schwierig. Und wenn diese Männer hierbleiben, können sie ihre Familien, ihre Kinder nachholen. Die Frage ist dann, werden aus der einen Million Flüchtlinge dann vier oder fünf Millionen? … In welcher Größenordnung das geschehen wird, weiß derzeit niemand … Allerdings ist es einfacher, eine Familie in Wohnungen unterzubringen, als einzelne Männer … Was ich jetzt fordern würde ist, dass Deutschland absolut keine Waffen mehr außerhalb der NATO und der EU exportiert … Alle Kriegsparteien sind schwer bewaffnet. Sie erhalten die besten Waffen …, aber irgendwann kommen die Waffen zu uns zurück – allein oder mit den Menschen. Vor uns liegt ein komplizierter, rechtlich schwieriger Prozess, auf dem wir die Bevölkerung mitnehmen müssen. Denn sonst werden wir von den Meinungsmachern überrollt und wir geraten in die Defensive. Das darf nicht passieren!