Bei der Landtagswahl erreichte die AfD 24,3 Prozent der Wählerstimmen. Die etablierten Parteien reagierten vor und nach der Wahl mit einseitigen Erklärungen über fremdenfeindliche Gründe. Der AfD-Erfolg hat tiefere Wurzeln. Eine Analyse zu Ursachen und politischem Versagen.
Von Thomas Wischnewski
Noch Tage nach der Wahl zum neuen Parlament von Sachsen-Anhalt lässt sich die Stimmung in der Landesregierung, in Staatskanzlei und ministerialen Machtzentralen von gedrückt, lethargisch bis schockiert beschreiben. Der Stimmen-Erfolg der AfD sitzt tief, obwohl Umfrageprognosen die Tendenz deutlich vorausgesagt hatten. Eine Schlussfolgerung in der Staatskanzlei lautete daraufhin, man müsse mehr in politische Bildung investieren. Das Resümee kann als symptomatisch begriffen werden. Denn die Wahlkämpfe von CDU, SPD, Linken, Grünen und FDP waren mehrheitlich davon getragen, der AfD ein rassistisches und rechtsextremes Siegel zu verpassen. Natürlich ist solches Gedankengut auch in der AfD versammelt. Kanalisierten Bürgerängsten über die Flüchtlingsströme nach Deutschland, auf deren Wellen sich die Alternative für Deutschland zum Sprachrohr gegen die Politik der Bundeskanzlerin stilisiert hatte, wurde Angst vor Rechtsradikalismus entgegengesetzt. „Volksverräter“- und „Lügenpresse“-Rufen allein mit der Nazi-Keule zu begegnen, muss beiderseitig als infantile Reaktion gewertet werden. Angst mit Angst zu löschen, kann als untaugliches Mittel gelten oder als Indiz für verängstigte Politiker.
Um jedoch den Erfolg der AfD verstehen zu können, muss man schon genauer hinsehen, was im Land vor sich geht und warum sich Menschen von bisherigen politischen Farben abwenden und einer noch ungeordneten und diffusen Bewegung Schwung verleihen. Zugespitzt könnte man sagen, die Flüchtlinge waren nur der akute Anlass, um sich über eine wachsende Unzufriedenheit Luft zu machen. Die Dynamik der massenhaften Zuwanderung, unvollständige Antworten und öffentliches Gezerre über einen nachvollziehbaren Kurs haben das Fundament für die Gegenbewegung gelegt.
Schon am Wahlsonntag, dem 13. März, machte das Argument von den Stimmen der Abgehängten die Runde. Menschen gehen nämlich seltener auf die Straße, um auf persönlich schwierige Situationen, Perspektivlosigkeit und existenzielle Schwächen aufmerksam zu machen. Davor stehen Schamgefühle. Ein öffentliches Bekenntnis, sich zum Kreis von Schwachen zu offenbaren, fällt keinem Menschen leicht. Insofern kann die Kontrabewegung zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung eher als ein Ventil gesehen werden. Dass an einem Tag gleich drei Landtagswahlen stattfanden, war für die AfD ein zusätzlicher Glücksfall. Man brauchte quasi nur einmal politische Parolen aufzumunitionieren, um in der gesamten Fläche Gehör zu finden. Die politischen Räume, die von der rechtskonservativen AfD besetzt werden konnten, haben die etablierten Parteien teilweise selbst erzeugt.
Die Entstehung von drei wesentlichen Ungerechtigkeitsfeldern lassen sich in Sachsen-Anhalt aufzeigen. Auf ihnen wuchs die Ablehnung gegenüber den bisher politisch agierenden Parteien. An erster Stelle ist die Unbalance bei Einkommen und der Mangel an Perspektiven zu nennen. Insbesondere der ländliche Raum ist hiervon stärker betroffen als die kreisfreien Städte im Land. Das schlug sich klar in den Wahlkreisen nieder. Der Nordharz und die Altmark waren in der Vergangenheit die Regionen mit NPD-Netzwerken und rechtsradikalen Anhängern. Die meisten Stimmen holte die AfD jedoch im südlichen Sachsen-Anhalt. In einigen Gebieten sogar über 30 Prozent der Stimmen. Die Hauptunterstellung, dass die AfD von rechtsextremen Wurzeln getragen würde, kann deshalb nicht pauschal gestützt werden.
Fast 77.000 Menschen in Sachsen-Anhalt beziehen Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Zahl der Leis-tungsempfänger hat über die Jahre zugenommen. Zwischen denen, die mit öffentlichen Zuschüssen leben müssen und jenen, die ihr Einkommen im Wertschöpfungsprozess erzielen können, ist eine Kluft entstanden. Dabei muss auch darauf verwiesen werden, dass solche Menschen, die in stabilen Branchen oder gar in prosperierenden Bereichen arbeiten, Einkommenszuwächse verzeichnen können. Der Graben verläuft nicht nur zwischen einer sehr kleinen und immer reicher werdenden Klientel und vielen Armen, sondern auch zwischen geringsten Einkommen und mittleren bzw. hohen Verdienstgruppen in der Mitte der Gesellschaft.
Das zweite wachsende Ungleichgewicht ist im notwendigen Zeitaufwand bzw. Arbeitsvolumen entstanden. Während Gutverdiener statistisch kürzer arbeiten, haben sich für Geringverdiener Arbeitszeiten kaum oder gar nicht verkürzt. Manche kommen gar mit einem versicherungspflichtigen Job nicht hin, um einen angemessenen Lebensunterhalt verdienen zu können. Betrug das jährliche Arbeitsvolumen im Jahr 2000 pro Erwerbstätigen noch rund 1.665 Stunden, verringerte es sich bis Ende 2013 auf 1.471 Stunden. Die Verkürzung kann in einigen Bereichen sicher mit einer höheren Produktivität erklärt werden, jedoch nicht in Jobs im Sozialmarkt bei Pflege, Betreuung oder bei anderen allgemeinen Dienstleistungen.
Eine dritte wichtige gesellschaftliche Unbalance kann man wohl im Bildungsbereich ausmachen. Während gutsituierte Bildungsschichten ihrem Nachwuchs Vorbilder und Richtungen für deren Karrieren geben, schaffen Kinder und Jugendliche mit sozial schwachen und weniger gebildeten Elternhäusern selten den Sprung aus dem Milieu ihres Heranwachsens. Der Missstand wird seit Jahren angeprangert. Eine Trendwende scheint trotz andauernder politischer Willensbekundung nicht in Sicht. Man neigt eher dazu, eine Verfestigung der Mechanismen sehen zu wollen. Eine vierte Erscheinung ist im Wahlkampfgetöse sichtbar geworden. Mit wachsendem Stimmengewinn der AfD nahm die Zurückweisung und Ablehnung gegenüber den Anhängern dieser Partei zu. Und diese Gegenbewegung – getragen von den Wahllosungen der etablierten Parteien und ihrer Köpfe – agierte ebenso mit Zuspitzung, Verallgemeinerung und Diffamierung wie die AfD und deren Sprachführer selbst. Außerdem wurde die Debatte mit einer Art pädagogischer Arroganz und Besserwisserei in die Breite gezogen. Der eigentliche Kern der Bewegung, deren soziale Wurzeln, wurde jedoch kaum berührt. Und das hat einen guten Grund. Lösungen für die gesellschaftlichen Ungleichgewichte, Visionen und Perspektiven, die persönliche Unzufriedenheit unterlaufen könnten, finden keinen konzeptionellen Widerhall in Partei- oder Wahlprogrammen. Wie wollte man beispielsweise strukturschwachen Regionen im ländlichen Raum und Menschengruppen im sozialen Gefüge von Kleinstädten und Dörfern, die demografisch die höchsten durchschnittlichen Lebensalter aufweisen, die furiose Zukunft eines digitalen Aufschwungs erklären? Kurz gesagt, es mangelt den bisherigen politischen Eliten selbst an zündenden Ideen, für eine schwache Region wirtschaftliche Visionen zu entwickeln. Stattdessen begegnen intellektuelle Eliten einem Vielfachen Aufbegehren mit oberlehrerhafter Zurechtweisung.
Politik schafft keine Arbeitsplätze. Das muss die Wirtschaft erledigen. So lautet die einfache gesellschaftliche System-Formel. Wer etwas anderes verspricht, muss als Scharlatan gelten und wer daran glauben wollte, glaubt wohl auch an Märchen. Aus diesem Urmechanismus heraus lässt sich gut ableiten, dass auch die AfD, die nun mit 25 politisch unerfahrenen Abgeordneten im 87-köpfigen Landesparlament sitzt, keine Entwicklungswunder vollbringen kann. Das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt muss weniger als Denkzettel, sondern vielmehr als ein Hilferuf angesehen werden. Schon deshalb gebietet sich ein anderer Umgang als ausschließlich Ausgrenzung und Zurückweisung.
Das Gebiet zwischen Salzwedel und Zeitz gilt mit seinem wirtschaftlichen Umbruch nach der Deutschen Einheit als besonders gebeutelt. Wichtige industrielle Zentren haben an Pulsschlag verloren. 1994 bis 2002, als das Land acht Jahre lang von einer rot-grünen Minderheitskoalition unter linker Tolerierung regiert wurde, zeigte man von außen und von innen auf politisch „untragbare“ Zustände. In diesen Jahren wurden in ganz Ostdeutschland noch viele Ansiedlungsweichen gestellt. Es mag sein, dass die politische Konstellation bei einzelnen Wirtschaftsentscheidern in der Tat abschreckend wirkte. Das Bild haben jedoch auch Landespolitiker, vor allem von CDU und FDP mitgeprägt. Je größer „Gespenster“ an die Wand gemalt werden, umso stärker die abschreckende Wirkung.
Reagieren politische Akteure der etablierten Parteien jetzt erneut mit prophetischen Horrorszenarien, erweisen sie dem Land und sich selbst nur einen Bärendienst. Vor negativen wirtschaftlichen Folgen hat jeder Angst. Sollte diesen aber mit dem Ausrufen von Zukunftsängsten begegnet werden, dreht man selbst an der Negativspirale. Außerdem: Wenn die Forderung nach mehr politischer Bildung das Kernkonzept von Regierungshandeln werden soll, erinnert das Vorhaben ein wenig an die Einführung eines „Staatsbürgerkundeunterrichts“, um Meinungsbildung vorzugeben.
Hoffnung, Mut und Zuversicht brauchen alle Menschen, die in Sachsen-Anhalt ihre Leben gestalten. Ob Impulse dafür und folgende wirksame Ergebnisse von den politischen Eliten – vor allem auch von denen der AfD – ausgehen könnten, darf bezweifelt werden. Fakt ist auch, ein Land wie Sachsen-Anhalt wird nicht vorrangig durch dessen führende Politiker geprägt, sondern vor allem von den Initiativen der Gesamtheit seiner Individuen. Eine Schuldzuweisung in nur eine Richtung greift in jedem Fall zu kurz. Das gilt sowohl für AfD-Wähler, die allein Politiker für alles verantwortlich machen möchten, als auch für die bisherigen Parteien gegenüber ihren Protestlern. Einen wirklichen Umbruch an den Lebensverhältnissen vieler benachteiligter Sachsen-Anhalter wird der neue Landtag nicht erzeugen. Im Prinzip steht die Gesellschaft noch am Anfang einer Neuorientierung. Die Flüchtlingsdebatte und die Wahlergebnisse haben dafür nur einen ersten Auslöser gegeben.