Schön bequem soll es sein, das Leben, und überhaupt. Schon zu Urzeiten mag Bequemlichkeit ein Leitmotiv gewesen sein. Da galt es, Kräfte zu schonen, denn diese setzten Energie voraus, Energie kam aus der Nahrung, und die war im Regelfall knapp.
Wenn dann aber der Bauch mal voll war, wozu noch Kräfte vergeuden? Denn am nächsten Tag hatte es mit der Suche nach Atzung wieder loszugehen, für die Jungen, für einen selbst, für die Gruppe. Nicht nur dazu war Fitness gefragt, auch um sich gegen den Feind zu wehren oder dessen Territorium zu erobern. Denn das eigene war eher zu knapp. Sicherlich hielten es nicht nur unsere Vorfahren mit der Bequemlichkeit so, auch deren Vorfahren und hinwiederum deren Vorfahren. Wohin man blickt, dem Prinzip der Bequemlichkeit wird gehuldigt: Affen hängen faul im Geäst, nachdem sie sich den Bauch mit Feigen vollgeschlagen haben, die Katze räkelt sich auf dem Fensterbrett und gähnt, Kühe liegen dösend im Gras, die Pferde dösen lieber im Stehen, und die Amsel träumt offenen Auges vor sich hin, wenn die Vogelbeeren beginnen, ihr zum Halse herauszuhängen. So wie wir werden womöglich auch die Tiere von einem wohligen Gefühl durchströmt, wenn sie es sich bequem machen. Sie können es uns nicht sagen, aber wir, wir können es ihnen nachempfinden. So wie unserem Gartennachbarn, wenn dieser sich, ohne etwas zu sagen, zufrieden im Liegestuhl aalt. Gerade noch hatte er die letzten Wildkräutlein aus seinem Erdbeerfeld herausgeklaubt, und nun die verdiente Behaglichkeit.
Angenehme Gefühle sind der Lohn dafür, wenn wir Grund haben zu glauben, etwas richtig zu machen oder gemacht zu haben. Dafür gibt es ein hirneigenes Belohnungssystem. Es erstreckt sich vom Mittelhirn bis in die basalen Großhirnanteile. Immer, wenn dieser Nervenzellverbund aktiv ist, fühlen wir uns wohl, fühlen wir uns in unserem Tun bestätigt. Zum Beispiel, wenn man bei Hunger isst, bei Durst trinkt, bei Kälte für Erwärmung sorgt oder bei Einsamkeit für sozialen Kontakt. Ein ähnliches Wohlgefühl kommt auf, wenn wir es uns nach getaner Arbeit behaglich machen. Nicht weit von den Belohnungszentren entfernt liegen Hirngebiete, die für die innere Bestrafung zuständig sind, bei Fehlverhalten also. Sie dienen zugleich als Warnlampe. Sie bereiten uns ein Missempfinden, wenn wir Fauliges essen oder auch nur riechen, wenn wir uns an Dornen stechen oder einem potenziellen Feind gegenüberstehen. Sie attackieren uns auch, wenn wir jemanden, den wir lieben, traurig machen. Es ist das Lust-Unlust-Prinzip, von dem hier die Rede ist und von dem schon vor hundert Jahren Sigmund Freud gesprochen hat, der große Psychoanalytiker. Bei Tier und Mensch steuert es nach evolutiv gewordenen Regeln das Verhalten und sorgt für dessen Zweckmäßigkeit. So auch für den Hang zur Bequemlichkeit, wenn er denn angebracht ist. Unangebrachtes Verhalten geht mit Risiken einher, und Fehlverhalten findet im Evolutionsprozess keine Gnade. Das ist der Grund, weshalb Tiere in ihrem Verhalten uns so perfekt erscheinen, so wunderbar „angepasst“ – ein jedes nach seiner Art.
Der Mensch indes, der scheint dieses Sicherungssystem dank (?) seiner Intelligenz über weite Strecken hin ausgehebelt zu haben. Er hat Kulturen entwickelt, in denen das Individuum den größten Teil seiner Existenzsorgen los ist. Dass unsereiner überfallen oder gar getötet wird, wenn er in seinem Bett schläft oder auf einer Parkbank hockt und döst, gehört zu den absoluten Ausnahmen. Auch verhungern muss kaum jemand, zumindest nicht in unseren Breiten. Wenn er es denn versäumte, entsprechend vorzusorgen, wird ihm schon irgendwie geholfen werden. Wie unsäglich unter den Urbedingungen die Mühe war, ein Stück Fleisch zu ergattern, heute tut es der Griff in die Tiefkühltruhe. Oder wenn jemand Appetit, sagen wir, auf Honig hat, dann geht er schräg über die Straße in den nächsten Supermarkt und kauft sich halt welchen. Anders seine Vorfahren. Die mussten auf hohe Bäume klettern, um sich bei einem Bienenvolk zu bedienen, und das unter ungezählten Stichen. Die Arbeitsleistung, die man für das Geld aufzuwenden hat, um einen Happen Fleisch oder eben ein Glas Honig zu kaufen, ist, gemessen an den Urbedingungen, fast schon lächerlich gering. Autos, Straßen, Brücken und Tunnel werden gebaut, Eisenbahnen und Schienen, Flugzeuge und Flughäfen, nur damit man möglichst bequem von einem Ort zum andern kommt. Oder denken wir an unsere Wohnungen. Sie sind so eingerichtet, dass auf keine Annehmlichkeit verzichtet werden muss. Ein chromglänzendes Ventil betätigt, und schon kommt Wasser aus der Wand, an einem kleinen Rädchen gedreht, und die Wohnung wird warm, kurz einen Knopf gedrückt, und das, was man gern loswerden will, spült es komplikationslos fort. Irgendwohin. Wohin, das ist Sache von anderen, die ein nicht minder gutes Leben führen, indem sie ihre Arbeitsleistung über deren Geldwert in Form anderweitiger Annehmlichkeiten ummünzen können. Auch muss keiner mehr aus dem Haus gehen, um zu wissen, wie die Welt aussieht und was da draußen los ist. Knopfdruck, und die Welt schaut mit schönen oder auch aufregend grässlichen Bildern in die bequeme Stube. Das Fernsehen und -hören sorgt auch dafür, dass man etwas zu lachen hat, es macht Musik und schafft Spannung, wenn es, dieses bequeme Leben, denn doch zu langweilig wird. Zum Beispiel durch Zugucken beim Sport, für den sich wiederum andere ins Zeug legen, oder durch Mord. Und die Leiche, die expediert man wiederum ganz einfach per Knopfdruck, per Zapp, nach Irgendwo. Es ist das Grundprinzip unserer Zivilisation: Selbst wer zu jenen gehört, die dafür arbeiten müssen, dass es die Andern schön bequem haben, für den sind wiederum Leute da, die ihn durch Annehmlichkeiten anderer Art entschädigen.
Dumm nur ist, dass wir für so viel Bequemlichkeit gar nicht geschaffen sind. Immerzu gab es in unserer Entwicklungsgeschichte Phasen, in denen man sich voll ins Zeug zu legen hatte. Das Leben von einst liegt uns offenbar noch im Blut – dort natürlich nicht, sondern in den Genen. Nach einer Zeit der Ruhe drängt es uns, wieder auf Action zu schalten, selbst dann, wenn die Sinnhaftigkeit unseres Tuns mehr als fragwürdig ist. Jeder kennt das vom Sonntagmorgen. Eigentlich könnte man den ganzen Tag schön faul im Bett verbringen, doch da ist etwas, das uns heraustreibt. Vom vielen Liegen täte einem alles weh, wird zur Erklärung behauptet, auch brauche man nun endlich einen Kaffee, dazu ein ofenfrisches Brötchen – und überhaupt. Das, was dann folgt, mag ebenfalls nicht wirklich zwingend sein, z. B. Spazierengehen, um mal „frische Luft zu schnappen“, im Schrebergarten „nach dem Rechten sehen“, ein Vogelhäuschen basteln, um etwas „auszuspannen“. Vielleicht auch mal wieder eine Quiche arbeiten (O. K., sein Hassgericht, leider) oder doch besser Nudeln, selbstgemachte natürlich, und die mit frischem Spinat. Er kann ja einstweilen Angeln gehen (obwohl uns beiden Fisch gar nicht schmeckt) oder Holz aus dem Wald holen, für den Kamin, oder Pilze für die Pfanne. Nun ja. Auch manches, was da unter „Fitness“ läuft, mag so eine Erklärung finden. Und was sonst noch alles, z. B. längs durch die Alpen wandern oder quer oder um die halbe Welt radeln, auf dem Motorrad im ersten Gang durch die Stadt dröhnen, mit manipuliertem Schalldämpfer natürlich, oder in der Kneipe mal wieder ordentlich die Wände wackeln lassen. Vielleicht auch chinesisch lernen oder täglich ein neues Gedicht, einfach so, ohne davon jemals Gebrauch zu machen.
Freilich, den einen treibt es eher zur Unruhe und zu all den damit verbundenen Unbequemlichkeiten als den anderen. Dahingehend gleichen sich eineiige (genetisch identische) Zwillinge weit stärker als normale Geschwister, und diese wiederum mehr als Adoptivkinder, die mit ihnen zusammen aufgewachsen sind. Persönlichkeitsmerkmale sind das, die vom Erbgut mitgestaltet werden. Die Trägen mögen sich über Stunden hin wohlfühlen, wenn sie es schön bequem haben, wenn sie wunderbar „entschleunigt“ sind, aber wehe ihren Partnern, denen es schon dann unter den Fingernägeln kribbelt, wenn sie mal für fünf Minuten ruhig am Tisch sitzen sollen. Aus Phlegmatikern werden eben keine Sanguiniker, und auch das Umgekehrte passiert nicht.
Es gibt nicht wenige Menschen, die arbeiten 60 Stunden pro Woche und mehr. Womöglich würde mit ihnen keiner der Steinzeitmenschen tauschen wollen, wenn er es denn könnte. Eigenartigerweise aber reden die Vielarbeiter seltener von Überlastung, von Stress, eher sind es die anderen, die objektiv weniger Grund haben. Wenn schon, dann sollten es doch die Menschen sein, die auf dem Lande leben. Da ist nicht nur der Beruf, da sind das Haus und der Garten, und da sind die langen Wege. Nein, allen voran sehen sich die Städter in der Opferrolle. Je städtischer das Leben, umso hektischer, umso stressiger, sagen sie. Doch manche von ihnen haben eine 35 (!)-Stunden-Woche und 40 (!) Tage Urlaub im Jahr, dazu womöglich noch illegitimen Urlaub durch Krankschreibung. So viel Kommodheit, das entspricht nicht dem, was uns die Evolution ins Stammbuch geschrieben hat. Da muss Ersatz her! Und für den ist heutzutage reichlich gesorgt: Fernsehen und Radio und CD-Player, Internet und Smartphone, und all das bis spät in die Nacht hinein. Regelmäßig kommen noch Helikopterfunktionen dazu, für das eine Kind oder, ersatzweise, für den Hund. Bis man endlich „vollkommen gestresst“ ist. Dabei könnte man es so schön bequem haben!
Prof. Dr. Gerald Wolf, Mitglied im Professorenkollegium emeritio