Die Verantwortlichen des SCM hatten den richtigen Riecher, als sie sich für die Zeitschrift „mein SCM“ zu Beginn des Jahres für ein Titelbild mit Finnia Wunram und Rob Muffels entschieden. Denn beide sind heute WM-Medaillengewinner. Der 21-jährige Vize-Europameister lässt im Freiwasserschwimmen über fünf Kilometer nur den Südafrikaner Chad Ho vorbei. Die 19-jährige Finnia Wunram holt über dieselbe Distanz die Bronzemedaille – nur 2,6 Sekunden hinter der Titelverteidigerin Haley Anderson (USA) und der Griechin Kalliopi Araouzou. Für viele ist das die Sensation der Titelkämpfe. Ausgerechnet während des Rennens macht der Livestream schlapp, sodass sich Finnias Mutter per Smartphone-Nachrichten auf dem Laufenden hält. Finnia ist nach dem Rennen völlig überwältigt: „Damit hätte ich nie im Leben gerechnet.
Eine Top-Ten-Platzierung wäre schon ein Hammer gewesen“. Vor zwei Jahren bei ihrem WM-Debüt in Barcelona mit 17 Jahren ist Wunram noch disqualifiziert worden. Jetzt gewinnt sie Bronze und anschließend wird sie Fünfte über den „langen Kanten“, die 25 Kilometer-Strecke. Rob Muffels gewinnt sogar noch Gold mit der Staffel.
Ein Blick zurück: Finnia kommt in Ec-kernförde zur Welt, kommt durch ihre Familie zum Schwimmen. Ihre ganze Familie betreibt diesen Sport, zum Teil mit beachtlichem Erfolg. Sie ist sehr früh mit dabei, schwimmt bald im Verein. Anfangs trainiert sie parallel in der Leichtathletik. Doch der Fokus legt sich schnell aufs Schwimmen: „Das macht einfach mehr Spaß.“ Ihre Schwimmkarriere beginnt beim VfL Schleswig, der Umzug der Eltern führt sie dann zum Swim-Team Elmshorn. Von dort folgt sie Trainer Bernd Berkhan nach Magdeburg. Keine ganz einfache Entscheidung. Einige hundert Kilometer weit weg von Zuhause, von West nach Ost, in eine neue Stadt – und das mit 16. Aber 2012 ist ein entscheidendes Jahr für Finnia. Sportlich und schulisch: Im Wasser werden die Zeiten immer besser; sie hat jetzt den Realschulabschluss in der Tasche, sie weiß: Ich will das Abitur machen. Und sie hat längst Geschmack gefunden an einer neuen Herausforderung: am Freiwasserschwimmen. Parallel bestreitet sie erfolgreich die lange Lagen- und die lange Kraulstrecke. Bei den Deutschen Schwimmmeisterschaften 2012 bis 2014 holt sie den 3. Platz über 400 Meter Lagen, 2014 wird sie über 1.500 Meter Freistil Vierte.
Bernd Berkhan nimmt sich 2012 viel Zeit, stellt Finnia und ihrer Schwester Annika das Sportgymnasium und das ganze Umfeld in Magdeburg vor. Beide Wunrams erkennen: Hier gibt es erstklassige Voraussetzungen für Sporttalente und Wunrams wissen auch: Hier können wir an unseren sportlichen Zielen arbeiten. Auf nach Magdeburg! Der Entschluss bedeutet harte Arbeit in einer ganz starken SCM-Trainingsgruppe. Der „Arbeitstag“ im Telegramm: Schule – Training – Schule – Training. Sie schwimmt ca. 3.000 Kilometer im Jahr. Nur so kann man die Langstrecke bei der WM in Kasan über 25 Kilometer und mehr als fünf Stunden im Wasser überhaupt bewältigen.
Finnia hat nur einen Tag mal trainingsfrei für schulische Arbeit und ein bisschen Freizeit. Sie ist oft unterwegs zu Wettkämpfen – denn ohne Leistungsvergleich keine Wettkampfhärte, keine Qualifikation für höhere sportlichen „Weihen“. Selbst der Doppeltitel bei den Deutschen Freiwassermeisterschaften 2015 im Bodensee bei Lindau über 5 und 10 Kilometer hätte wegen der strengen Zeitvorgaben des Deutschen Schwimmverbandes eigentlich nicht für die WM gereicht – doch Finnia wird nominiert. Sie zahlt dann das Vertrauen doppelt und dreifach zurück. Leider reichen die Platzierungen von Kasan nicht als Qualifikation für die Olympiade 2016 in Rio. Deshalb ist ihr sportliches Ziel klar: Sie will 2020 zur Olympiade nach Tokio. Das sieht nach einem realistischen Ziel aus. Denn seit 2012 geht es für sie kontinuierlich nach oben. Alles „basiert auf dem Vertrauen zum Trainer“ und in Magdeburg gebe es einfach die optimale Verbindung von Schule und Trainingsbetrieb.
Finnia ist eine zarte junge Frau – sie könnte sich hinter mancher Konkurrentin verstecken. Aber sie kann sich durchsetzen. Denn beim Freiwasserschwimmen – insbesondere beim Start, an den Wendebojen und im Schlussspurt – geht es oft hart zur Sache. Freiwasserschwimmen braucht „vorausschauendes und cleveres Schwimmen“. Es kommt nicht unbedingt wie im Becken als Erster ins Ziel, wer Schnellster ist und an der Wende und am Anschlag keinen Fehler macht. Im Freiwasser geht es darum zu wissen, wo man liegt, wer wen wie attackieren kann. Man muss Lücken ausnutzen oder schließen – immer zum richtigen Zeitpunkt. Schwimmen gegeneinander, im Zwei- oder Mehrkampf, stets mit Strategie. Natürlich muss die Kondition für den Endspurt und den idealen Anschlag reichen. Finnia überholt im Finish von Kasan die lange führende Niederländerin van Rouwendahl. Da ist der Weg zur Medaille frei.
Freiwasserschwimmer sind hart im Nehmen – nicht nur im Clinch an der Boje um den besten Platz auf der nächsten Strecke. Auch gegen schlechte Wasserqualität muss man kämpfen können. Da gilt es in der schmutzigen Kasanka, einem Nebenfluss der Wolga, unter fehlenden Sichtbedingungen ebenso Leistung zu bringen, wie in kristallklarem Karibikwasser.
Gefragt nach dem besonderen Höhepunkt ihrer Karriere nennt sie neben dem WM-Erfolg in Kasan die Jugendweltmeisterschaft in Kanada 2012. Als Grund führt sie nicht die Platzierungen an – über 7,5 Kilometer der Mädchen wird sie Vierte, mit der Juniorenstaffel gewinnt sie Gold. Sie ist heute noch vom Besuch der Niagarafälle im Anschluss an die Wettkämpfe beeindruckt. Hätte sie einen Wunsch frei, dann wäre es ein wenig mehr Zeit für solche Ausflüge. Andere Orte möchte sie nicht nur im Hotel, Schwimmbecken und an der Freiwasser-Wettkampfstrecke erleben. Land und Leute will sie sehen und darüber ihren Eltern im abendlichen Telefon-Chat berichten. Sicher wird sie ihnen 2020 aus Tokio schreiben … Und was kommt dann? Das weiß sie jetzt schon. Beruflich will sie „irgendwas mit Sport machen“. Optimale Voraussetzungen bringt sie dafür sicher mit.
Heinz-Josef Sprengkamp