Ein Scheidegespräch zwischen Domprediger
Giselher Quast und Ludwig Schumann.
Im Pfarrhaus wird gemalert, irgendwie riecht es bereits nach Umzug. Eine Ära geht zu Ende: 37 Jahre prägte Giselher Quast, zeitweise gemeinsam mit Waltraut Zachhuber, das Gesicht der Domgemeinde. Es ist nicht falsch, wenn man Giselher Quast als einen Prediger mit zwei Geliebten beschreibt: Da ist, natürlich, seine Frau. Da steht aber auch der Dom, mit dem der nun bald „ehemalige Domprediger“ ein ganz eigenes Verhältnis hat. Wahrscheinlich auch der Dom mit ihm. Der gotische Bau ist für ihn viel mehr als eine Behausung seiner Arbeitsstelle. „Ich wollte nicht nur selber im Dom predigen, ich wollte auch den Dom zum Sprechen bringen.
Mit seiner Geschichte und seinen Steinen kann er das ja viel besser als ich“, ist so ein Wort Quasts. Ein anderes ist, „dass man sich einmischen muss“. Kürzlich hat er sich eingemischt. Als die Bäume vor dem abgerissenen Plattenbau am Breiten Weg weichen sollten, weil man wieder einmal „Baufreiheit“ brauchte, diesen M-amputierten Euphemismus für ein einfacher verständliches „Baumfreiheit“. Quast hat dabei im Hinterkopf, wie viele Jahre Bäume brauchen, bis sie herangewachsen sind. Eben diese Geschichte soll die erste Frage ergeben:
Die Bäume sind weg. Wie geht man am Ende seiner Amtszeit mit einer solchen Niederlage um?
Giselher Quast: Das war nicht das einzige Mal, dass ich verloren habe. Es gehört zu meinen Erfahrungen, an vielen Stellen scheinbar gegen Windmühlen oder Übermächte gekämpft zu haben. Zu alldem kommt die Erfahrung, dass wir vor dem politischen Umbruch oft erfolgreicher waren. Die Bäume, die jetzt fielen, konnten wir während der DDR-Zeit ganz einfach durch die Ankündigung von Protest retten. Nichts fürchtete die Partei- und Staatsführung so sehr wie öffentliche Proteste. Eine Demokratie fürchtet den öffentlichen Protest überhaupt nicht. Sie kann ihn wunderbar kompensieren. Mit anderen Worten: Es ist ein ziemlich niederschmetterndes Gefühl, zu begreifen, dass man mit dem öffentlichen Protest viel schwerer etwas erreichen kann als in der Konfrontation mit einem politischen Gegner vordem.
Ihre Geschichte mit dem Dom reicht weiter zurück als der Beginn ihrer Arbeit als Domprediger?
Es gibt seit meinem zehnten Lebensjahr nur zwei Jahre ohne den Magdeburger Dom. Ich sang seit meinem zehnten Lebensjahr im Domchor. Das war eine Zeit, die mich ganz tief geprägt hat. Ich stamme aus einem freikirchlichen Pastorenhaushalt, also einer kleinen, heilen Welt, einer frommen Gemeinschaft mit sehr viel Wärme. Hier im Dom habe ich zunächst die große klassische Kirchenmusik kennen gelernt, habe als Zwölfjähriger in Kniestrümpfen die Matthäus-Passion mitgesungen, habe diesen Dom lieben und den weiten Horizont einer Landeskirche kennen gelernt. Die Kirchenprovinz Sachsen galt ja als eine sehr progressive Kirche. Beides, die freikirchliche Herkunft und der landeskirchliche Horizont haben mir zwei Stichworte für mein Leben und meine Arbeit mitgegeben, die ich seither in mir trage: Wärme und Würde. Beides möchte ich verbinden und ausstrahlen.
Wann wurden Sie Domprediger?
1979. Die Stelle als Domprediger war meine erste eigene Pfarrstelle. Ein halbes Jahr später kam meine Kollegin, Waltraut Zachhuber. Das war zu der Zeit ebenso ungewöhnlich, dass eine Frau Dompredigerin wurde, wie der Umstand, einen blutjungen Anfänger zu berufen. Ich denke, die Kirchenleitung unter Bischof Werner Krusche hatte damals ganz bewusst auf Neuanfang gesetzt. Es war die Zeit, in der sich die Friedensbewegung formierte, in der die Kirchenleitung gegenüber der DDR mehr auf Konfrontation ging. Da wollte man auch an so zentraler Stelle, wie das der Magdeburger Dom, die Bischofskirche, war, frischen Wind.
Zehn Jahre später wurde es spannend?
Das hatte eine lange Geschichte. Die begann 1980 mit „Schwerter zu Pflugscharen“, mit den Friedensdekaden, mit unseren „Mauer-Gottesdiensten“ jeweils am 13. August. Diese Aktionen fanden sich alle in meinen Stasi-Akten wieder. Im Rahmen dieser Friedensarbeit fanden sich viele Oppositionsgruppen im Umfeld der Domgemeinde. Jugendliche, Punker, ein Ökologiekreis, der Friedenskreis unter Rainer Bohley. Dazu kamen Ausreiseantragsteller. 1983 führten wir dann am „Mahnmal des Krieges“ von Ernst Barlach das wöchentliche Friedensgebet ein. Das wurde schnell zum Treffpunkt all dieser Leute. Natürlich war auch die Staatssicherheit massiv vertreten. Die Stasi-Mitarbeiter mischten sich unter die Friedensbeter, enttarnten sich meist dadurch, dass sie nicht wussten, wie herum sie das Liederheft halten sollten. So etablierte sich bis zum Herbst 1989 die oppositionelle Szene und damit wurde es klar, dass der Dom in dieser Zeit eine ähnliche Rolle spielen würde wie die Nicolaikirche in Leipzig, die Gethsemane-Kirche in Berlin oder die Kreuzkirche in Dresden.
In dieser Zeit entstand der Ruf Quasts als desjenigen, der sich an die „Spitze der Bewegung“ stellte?
Da beginnt schon die Legendenbildung. Waltraut Zachhuber und ich, haben gemeinsam daran gearbeitet, dass die Proteste friedlich blieben. Wir hatten um uns einen Beraterkreis, die etwa vierzigköpfige „Beratergruppe Dom“, zu der Gemeindeglieder aus den verschiedenen Magdeburger Gemeinden gehörten, beispielsweise der spätere Oberbürgermeister Dr. Willy Polte, der Sozialminister Norbert Bischoff. Am 5. Oktober versammelten sich in- und außerhalb des Doms insgesamt 600 junge Menschen, die beschlossen, zum Alten Markt zu ziehen. An diesem 5. Oktober erlebten wir zum ersten Mal Gewalt. Die Polizei hatte mit einer Polizeikette an der Stelle, wo Bärstraße und Karl-Marx-Straße, der heutige Breite Weg, aufeinander stoßen, die Straße abgeriegelt, schlug von hinten auf die Leute ein, die auf diese Weise nach vorn getrieben wurden. Vorn haben sie Leute verhaftet und aufgeladen. Viele Menschen liefen blutend ins Pfarrhaus zurück. Zum ersten Mal sahen wir bei der Polizei eine Ausrüstung, die wir bis dahin nur aus dem Westfernsehen kannten: Integralhelm, Plexiglasschild und extra lange Schlagstöcke. Am 7. Oktober gab es das gleiche Kesselbild und Prügeleien, Verhaftungen. Dann kam der 9. Oktober, der nächste Montag. Wir überlegten, wie wir dieser Gewalt ausweichen könnten. Am 9. Oktober ging eine ungeheure Hetze durch die Stadt, über Betriebslautsprecher, über Schullautsprecher. Im Dom träfe sich die Konterrevolution. Es würde Blut fließen. Die Domprediger würden verhaftet. Aussagen wurden getroffen wie: Wenn eure Eltern heute in den Dom gehen, werden sie verhaftet und ihr kommt ins Kinderheim. Also ganz massive Drohungen. Und trotzdem kamen an diesem Abend 4500 Menschen, viermal so viel Leute wie eine Woche zuvor! Da übten Leute mit butterweichen Knien den aufrechten Gang.
Wie ging die gesellschaftliche Wende, der politische Umbruch weiter?
Am 23. Oktober gab es die erste Magdeburger Demonstration. Wir trugen ein großes weißes Tuch mit der Friedenstaube an der Spitze des Zuges, gingen aus dem Dom heraus auf die Karl-Marx-Straße, dem heutigen Breiten Weg. Es war mucksmäuschenstill. Die Leute gingen wie in Watte gepackt hinter dem Friedenstuch und jeder dachte: Wann springen sie uns hinter der nächsten Ecke an? Dann ging der Zug über die Karl-Marx-Straße, Wilhelm-Pieck-Allee, Otto-von-Guericke-Straße, Danzstraße wieder zum Dom. Da passierte etwas Unglaubliches: Als die Demonstrationsspitze am Dom wieder ankam, verließen die Letzten gerade das Gebäude. Es waren so viele Menschen zur Demonstration gekommen, dass der gesamte Ring voller Menschen war. Da begannen die zuerst zurückkamen, so herzhaft zu lachen, dass sich dieses Lachen durch den ganzen Zug fortsetzte, obgleich weiter weg niemand wusste, was denn der Grund dieses Lachens war. Es hatte etwas ungeheuer Befreiendes, verbunden mit dem Gefühl, dass wir so viele seien, dass man sagen konnte: „Die können uns nicht mehr.“
Dann kam der politische Umbruch. Wie hat sich da die Rolle des Dompredigers verändert?
Während der Zeit der DDR galt ich dem Regime als rechter Reaktionär. Nach der Wende war ich in den Augen der konservativen Westdeutschen ein „linker Spinner“. Dabei war ich doch immer der Gleiche geblieben! Es kamen ja nun viele westdeutsche Beamte in die Landeshauptstadt. Die dachten, der Dom sei, wie im Westen üblich, die Honoratiorenkirche. Irgendwann sagte mir ein hoher Landesbeamter nach dem Gottesdienst, dass ich nicht das Recht habe, meine politische Meinung auf der Kanzel zu sagen. Damit würde ich Leute wie ihn aus der Kirche predigen. Hinter ihm standen vier Mitglieder der Domgemeinde, die wiederum meinten, wenn ich so predige, wie dieser Herr es wünsche, sie dann gingen. Und dann gingen mehr! Wir ostdeutschen Theologen hatten gelernt, dass man dem Staat gegenüber ein kritischer Begleiter sein muss. Wir sind als Domgemeinde Basisgemeinde geblieben. Das ermöglicht auch heute, Widerstand zu leisten, wo es nötig ist, beispielsweise die Glocken zu läuten und die Dombeleuchtung abzuschalten, wenn Magida oder AfD auf dem Domplatz demonstrieren.
Die „Ehe“ des Dompredigers mit seinem Dom wurde allerdings von der Kirchenleitung auch einmal erheblich gestört, ja, sie sollte geschieden werden?
Ja, aber es ist bis heute der Gemeinde ebenso unklar wie mir, worum es eigentlich ging. Es gab etliche Leute in der Kirchenleitung, die mich von dieser Stelle weghaben wollten. Der Vorwurf, der mir gemacht wurde, stammt aus dem Bestand des Kirchenrechts
und lautete auf „Ungedeihlichkeit“. Das ist ein Paragraph, der aus dem Beamtenrecht der Nazizeit ins Kirchenrecht kam. Da muss man nichts begründen, sondern man hat als Betroffener hinzunehmen, dass es in der Gemeinde Leute gibt, die nicht mit einem können. Also müsse ich gehen. Das hat die Gemeinde und die Öffentlichkeit wachgerüttelt, die sich sehr hinter mich gestellt haben. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit dem Rechtsanwalt gegen meine eigene Kirche antreten muss. Diese Kirche ist mein Zuhause. Ich bin in dieser Kirche aufgewachsen, bin von ihr geistlich geprägt worden. Aber zwanzig Jahre nach der Wende war das nötig. Ich habe viel Solidarität in dieser Zeit erfahren, viel Wertschätzung. Heute bin ich froh, dass ich diese schlimme Zeit durchgestanden habe. Jetzt, zu meiner Verabschiedung, weiß ich, ich kann in Würde aufhören. Die Gemeinde lässt mich ungern gehen. Dass die Domgemeinde selbst in dieser schwierigen Zeit weiter gewachsen ist, zeigt doch, dass wir hier keine schlechte Arbeit gemacht haben.
Es gibt ein „Wachsen gegen den Trend“?
Über welche Potentiale unser Dom verfügt, sagt eine Studie „Wachsen gegen den Trend“ der Heidelberger Universität. Sie hat über dreißig Kirchengemeinden in Deutschland untersucht, die zahlenmäßig Wachstum aufweisen. Die Domgemeinde wächst seit 1989 ununterbrochen. Wir sind inzwischen bei über 200 Prozent des Bestandes von vor der Wende. Die Heidelberger benannten auch die Gründe. Natürlich spielen der schöne Dom, die großartige Kirchenmusik eine Rolle. Aber für Magdeburg wurde als einer der Gründe benannt, dass wir uns nicht niedrigschwellig machen. Dass wir in Gottesdienst und Verkündigung immer einen hohen Anspruch hielten. Wir haben Kirche befördert, indem wir unseren Anspruch nicht aufgaben. Und es gibt genug Menschen, die genau das schätzen und suchen.
Wie lautet der Ausblick für den scheidenden Domprediger?
Zuerst muss man sagen: Ich nehme mit Wehmut Abschied von einer wunderbaren Arbeit. Ich erlebe jetzt ein Jahr lang einen Abschied auf Raten, weil ich die Dinge zum letzten Mal mache: Die letzte Weihnachtspredigt. Die letzte Konfirmation. Die letzte Jugendfreizeit. Ich habe aber bereits viele Anfragen für Mitarbeiten, beispielsweise für den großen Kirchentag im nächsten Jahr, für Gottesdienste und Projekte im Kirchenkreis. Ich werde keine Langeweile haben. Eine liebe Freundin gab mir auf den Weg: Denke nicht immer daran, was du zum letzten Mal machst. Denke lieber daran, was du dann zum ersten Mal machen kannst.