Es herrscht Verwirrung am Esstisch trotz einer nie gekannten Auswahl an hochwertigen Lebensmitteln.
Von Peter Schönfeld
Derzeit sind wir einer Vielzahl von kontroversen Meinungen, wie um die Flüchtlingsproblematik, das Für oder Wider der Energiewende oder um die Kontroverse zwischen Schulmedizin und Homöopathie, ausgesetzt.
Zu allem Überdruss streuen selbsternannte Ernährung-Gurus auch noch Zweifel in unsere traditionellen Essgewohnheiten. All das kulminiert in der Frage: Was ist eigentlich das richtige Essen? Müssen wir zur Steinzeitkost zurückkehren, von der Mischkost zur „basischen“ Ernährung wechseln oder sollen wir unser Heil in der veganen Ernährung suchen? Ist die bisher so hoch geschätzte Milch etwa doch ein Krankmacher? Oder ist das Selbstkochen die Alternative zum Clean Eating (Fertiggerichte)? Zusätzlich wird uns eindringlich geraten, dass unser Körper durch Stoffwechsel-Schlacken ständig vermüllt wird und deshalb regelmäßig entschlackt werden muß. Liebe Leser, mit den folgenden Zeilen möchte ich den Versuch unternehmen, die Diskussion um die aktuellen Ernährungvorschläge etwas zu versachlichen.
Ist die Steinzeitkost der Ausweg? Wir sind die Nachfahren von Emigranten, die vor 60 bis 70 Tausend Jahren aus Afrika und dem Nahen Osten nach Westeuropa ausgewandert sind, mit einem Körper, der von den Steinzeit-Bedingungen geprägt ist. Da sich unser Erbgut über einen Zeitraum von tausenden Generationen kaum verändert hat, kann deshalb nur die Steinzeitkost (aktuell als Paläo-Kost bezeichnet; Paläolithikum – Altsteinzeit), die artgerechte Ernährung sein. Deshalb müssen Wild, Fisch, Pilze, Nüsse, Esskastanien, Eier, Gemüse, Kräuter, Beeren, Insekten, Würmer auf den Tisch, aber Getreideprodukte (Brötchen, Brot, Müsli), Reis, Nudeln und Zucker sind zu verbannen. Diese Paläo-Kost ist eiweiß-reich und entspricht im modernen Sprachgebrauch der Low Carb-Diät. Allerdings widerspricht der Speiseplan der Paläo-Köche den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zur Deckung unseres täglichen Kalorienbedarfs. Danach sollen nämlich Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße in einem prozentualen Verhältnis von etwa 55 : 30 : 15 verzehrt werden. Die Pioniere der Paläo-Kost werben damit, dass sie vor Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten oder Fettsucht schützt. Die Konvertiten sollen außerdem mit einer reineren Haut und verbesserter geistiger Fitness belohnt werden. Vermittelt durch eine Vielzahl von Kochbüchern („Paleo – Power for life“, „Paleo für Anfänger“, „Paleo für Genießer“, „Gesund mit Paleo“) und einer wachsenden Zahl von Paläo-Restaurants drängt sich die Paläo-Kost immer stärker in unser Bewußtsein. Aber, um bei der Realität zu bleiben, es gibt keinen Beleg für den versprochenen Schutz gegen Zivilisationskrankheiten. Da der Steinzeitmensch nur etwa 35 Jahre alt wurde, hatten diese keine Chance bei ihm manifest zu werden. Der Steinzeitmensch war auch einem Wechselbad von Nahrungsüberschuß und ausgedehnten Hungerzeiten ausgesetzt. Dadurch hatten die „guten Futterverwerter“ unter ihnen, also diejenigen die leicht Fett-Reserven anlegen konnten, einen Überlebensvorteil bei längerem Nahrungsmangel. Heute, wo jederzeit Kalorien in einer unbegrenzten Menge verfügbar sind, sind die guten Futterverwerter im Nachteil. Eine Rückkehr zur Steinzeitkost führt natürlich auch zu der Frage: Welche Kost soll es denn sein, die der Steinzeitmenschen von Nordeuropa oder dem Mittelmeerraum oder derer, die in Afrika heimisch waren?
Hilft „basische“ Ernährung gegen Osteoporose? Die Verfechter der „basischen“ Ernährung behaupten, dass der Verzehr von Mischkost den Körper übersäuert. Dafür werden Fleisch, Wurst, Fisch, Eier, helles Brot, Nudeln, Sojaprodukte, Zucker, Käse verantwortlich gemacht. Nach ihrem Konzept verursachen „saure“ Lebensmittel (korrekt müsste es heißen, säure-bildende Lebensmittel) eine Störung des Säure-Base-Haushaltes im Körper. In der Folge sollen sich chronische Zivilisationsleiden, wie Rheuma, Neurodermitis, Diabetes, Gicht, Osteoporose, Bronchitis, entwickeln. Es wird deshalb empfohlen, die übliche Mischkost auf „basische“ Ernährung umzustellen. Als „basische“ Nahrungsmittel (basen-bildend) werden Kartoffeln, Äpfel, Blumenkohl, Brokkoli, Erbsen, Grünkohl, Gurken, Pampelmusen, Bananen, Erdbeeren, Honigmelonen, Grapefruits, Sauerkirschen, Zitronen, Stachelbeeren bewertet. Stutzig macht einen allerdings die Charakterisierung von Zitrusfrüchten als „basische“ Lebensmittel, da der Biss in die Pampelmuse ein saures Geschmackserlebnis ist.
Nach obiger Einteilung bewerten die Propagandisten der Paläo-Kost und die Übersäuerungs-Warner, die gleichen Nahrungsmittel völlig unterschiedlich. Während die Vertreter der Paläo-Kost den Verzehr von Fleisch und Fisch uneingeschränkt empfehlen, ist dieser in den Augen der Übersäuerungs-Warner ein schlimmer Krankmacher. Nach deren Überzeugung führt der gelegentliche Genuß eines Schnitzels zur fortschreitenden Erosion der Gesundheit (Fleisch als Nierenmörder und Knochen-Entkalker). Man kann dem entgegenhalten, dass sich die Inuit bis zum Anbruch des Zeitalters der Supermärkte eiweiß-und fett-reich ernährt haben (Eskimo = Rohfleischesser), Kohlenhydrate für sie kaum verfügbar waren und Herz-Kreislauf-Erkrankte unter ihnen nahezu unbekannt waren.
Auf welcher Grundlage wurden nun die Lebensmittel in „saure“ und „basische“ eingeteilt? Am Anfang des vorigen Jahrhunderts verbrannte der schwedische Chemiker Ragnar Berg Lebensmittel und bestimmte in deren Asche den Gehalt von Kationen und Anionen. Lebensmittel mit einem hohen Kationen-Gehalt wurden von ihm als „basisch“ eingestuft und jene mit einem hohen Anion-Gehalt als „sauer“. Ab 1927 wurde das Konzept der Ernährungs-verursachten Störung des Säure-Base-Haushaltes durch ein Buch des amerikanischen Arztes McCann weit verbreitet, das den Titel „Kultursiechtum und Säuretod“ hatte. Ist ein „säure-verängstigter“ Zeitgenosse bereit zur „basischen“ Ernährung zu konvertieren, wird ihm durch Naturheilkundler nahegelegt, regelmäßig die Abnahme der „Körper-Übersäuerung“ anhand des Harn-pH-Wertes zu kontrollieren. Richtig ist, dass die Chemiker den pH-Wert für Bewertung des sauren Charakter einer wässrigen Lösung heranziehen. Wird nun ein leicht saurer Harn-pH gemessen, ist die Empfehlung, pulverisierten Korallenkalk von einer bestimmten Südseeinsel (Coral Care) einzunehmen. Bei schmalem Geldbeutel tut es auch „Basenpulver“ (z.B., Dr. Jacobs Basenpulver, BASICA instant Pulver oder Quick Basic Basenpulver). Dazu muß allerdings gesagt werden: Ein saurer Harn ist kein Grund zur Besorgnis. Der Harn-pH von Gesunden ändert sich mehrfach am Tage in einem Bereich von 4,6 bis 7,5. Deshalb ist die Behauptung, dass der Verzehr von Mischkost den Körper zu sehr übersäuert und damit Zivilisationserkrankungen verursacht, ein Mythos. Unabhängig davon was wir essen, Kartoffeln, Brot oder Fleisch, wird durch die Verbrennung der Nahrungsmittelbestandteile in den Zellen immer Säure gebildet. Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße werden zum allergrößten Teil zu Kohlendioxid und Wasser verbrannt. Insgesamt bilden sich an einem Tag im Körper ca. 350 l Kohlendioxid, das mit Wasser zu Kohlensäure reagiert. Wenn man von der (nicht zu treffenden) Annahme ausgeht, dass die gebildete Kohlensäure im Körper verbleibt, müsste innerhalb eines Tages der pH-Wert in den Körperflüssigkeiten (Blut und Zellwasser) von etwas über 7 auf ca. 3 fallen, was absolut tödlich ist. In Wirklichkeit gibt es im Körper ein von der Evolution ausgeklügeltes Regelsystem, das die Säure-Anreicherung verhindert. Dadurch bleibt der Blut-pH im Bereich von 7,35 und 7,44. Zu diesem Regelsystem gehören die Lunge (Kohlensäure-Ausscheidung), die Niere, die Leber und verschiedene zelluläre Puffersysteme. Durch dieses Regelsystem wird die „Übersäuerung“ des gesunden Körpers verhindert. Ernährungswissenschaftler kritisieren deshalb völlig zu recht, die Harn-pH-Messung als Diagnosewerkzeug.
Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass es Situationen gibt, wo der Blut-pH in Richtung sauer verschoben ist. Ein Beispiel dafür ist die schlecht eingestellte Zuckerkrankheit (Diabetes). Der Blut-pH kann aber auch bei einer extremen Ernährung oder Diät absinken, z.B., wenn wenig Kohlenhydrate und viel Eiweiß über einen längeren Zeitraum verzehrt werden (Atkins-Diät). In beiden Fällen werden entweder durch Insulin- oder Kohlenhydrat-Mangel die sauren Ketonkörper gebildet. Um die durch Kohlenhydrat-Mangel verursachte Ketonkörper-Bildung nicht zu vergessen, lernen Medizinstudenten seit Generationen den Satz: Fette müssen im Feuer der Kohlenhydrate brennen. Zum Fasten und dem Entschlackungsversprechen müssen unbedingt zwei Dinge angemerkt werden: Erstens, durch die Verbrennung der verzehrten Speisen werden keine Schlacken gebildet, sonder leicht ausscheidbare Kohlensäure, Wasser und Harnstoff. Zweitens, beim Fasten werden Fett-Reserven abgebaut und zum Teil in Ketonkörper umgewandelt. Somit wird beim Fasten der Körper nicht entschlackt, sondern, das Gegenteil trifft eher zu, mit schwer ausscheidbaren Stoffwechselprodukten (wie Harnsäure) angereichert.
Ist die Milch ein hochwertiges Lebensmittel oder Krankmacher? Die dazu entbrannte Diskussion ist zu einem Glaubenskrieg entartet. Ähnlich der Stigmatisierung der Mischkost, wird behauptet, dass der regemäßige Genuß von Milch, die Ursache von Diabetes, Osteoporose, Schlaganfällen und Krebs ist (Süddeutsche Zeitung, 16.05.2015). Die Milchgegner argumentieren, dass die Milch den Körper verschleime. Statt der Kuhmilch werden Sojamilch, Reismilch, Dinkelmilch als Alternativen empfohlen. Gerhard Rechkemmer (Präsident d. Max-Rubner-Instituts für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe) dazu: „Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage dafür, dass Milch all diese Zivilisations-Krankheiten auslöst. Mein Eindruck ist, dass man dieses Milieu (Milchgegner) mit logischen und wissenschaftlichen Argumenten nicht mehr erreicht.“
Richtig ist, dass es Nord- und Mittel-Europäer (0 bis 20 %) gibt, die empfindlich gegenüber Milchzucker (Laktose) sind. Bei den Betroffenen kann die Laktose nicht aus dem Darm aufgenommen werden, was Blähungen und Durchfall zur Folge hat. Falsch ist aber, dass die Milchunverträglichkeit durch die Messung der Spuckmenge nach einem „Zuckertrunk“ diagnostiziert werden kann (S. Schäfer, Der Feind in meinem Topf). Für Vielmilch-Trinkern (ab 1 Liter Milch pro Tag) scheint es allerdings ein erhöhtes Risiko für Prostatakrebs zu geben.
Ist die vegane Ernährung dann eine lohnende Alternative? Für mich, lieber Leser, jedenfalls nicht. Abgesehen von den Abstrichen beim Essengenuß, habe ich eine höllische Angst davor, einen Eisen- oder Kalzium- oder Jod- oder Zink- oder Vitamin B12-Mangel zu erleiden.
Warum sprechen die neuen Ernährung-Mythen so viel Neugierige an? Dafür lassen sich ganz unterschiedliche Gründe benennen. Zum einen werden sie ständig durch die Medien verbreitet. Viele Menschen haben ein hohes Sicherheitsbedürfnis und dadurch Angst, etwas falsch zu machen. Bevor sie ihr geordnetes Leben ins Chaos stürzen, verzichten sie lieber auf den Genuss einer Tasse Milch (Daniel Kofahl, Ernährungsphysiologe). Dann gibt es die Individualisten, die mit Milch-Ablehnung signalisieren wollen, dass sie sensibel sind, auf der Höhe der Zeit und kritisch gegenüber der Industrie eingestellt sind. Es gibt aber auch Gourmetfetischisten, die noch nicht die richtige Milchbegleitung für ihre Cerealien gefunden haben. Den letzteren sind auch Nachtmilchkristalle zu empfehlen. Nachtmilchkristalle werden aus der Milch von in der Nacht gemolkenen Kühen gewonnen und sind hoch geschätzt, wegen des in den Kristallen vermuteten Schlaf- und Anti-Aging-Hormons Melatonin.
Der sich heute ausbreitende Ernährungsfundamentalismus ähnelt der alten religiösen Askese: Verzicht ist das Glaubensbekenntnis (ZEITNr.6/16). Der Wunsch sich regelmäßigen Entschlackungskuren zu unterwerfen kann auch auf einen Ersatz für den Verlust einer religiösen Betätigung hinweisen. Beim strengen Fasten sollte man jedoch beachten, lieber Leser, dass es eine Gratwanderung ist, weil es die Nieren belastet, und zusätzlich Herzrhythmusstörungen, eine Unterzuckerung, einen Gichtanfall und einen Eiweiß-Verlust verursachen kann. Deshalb raten altmodische Ernährungsvertreter, den Kopf von Entschlackungskuren zu entschlacken.
Mein Credo aus dem oben Gesagten ist: Ich bleibe bei einer mediterran-ausgerichteten Mischkost und werde diese mit Augenmaß genießen.
Der Autor
Prof. Dr. Peter Schönfeld, Mitglied des Magdeburger Professoren Kollegiums „emeritio“, studierte Chemie an der TU Dresden und wurde dort auch promoviert. Er habilitierte sich im Fachbereich Biochemie an der Medizinischen Fakultät der OvGU und wurde zum Hochschuldozenten ernannt. Seine Forschungsaktivitäten sind auf den Energiestoffwechsel der Zelle ausgerichtet.