„Wenn wir eine Revolution machen, sollten wir wie Kinder sein“

211015PG_Wecker6Ludwig Schumann im Gespräch mit Konstantin Wecker (zum Magdeburger Konzert am 21. Oktober 2015 entstanden)

MAGDEBURG KOMPAKT: Mit diesem Lied beginnt Ihre neue CD „Ohne Warum“. So heißt auch Ihre Tour.

Meine Frage: Wenn genug schon nicht genug ist, dann hätte ich wohl verstanden, dass das neue Album „Wecker. Ohne Wenn und Aber“ geheißen hätte. Warum aber heißt es „Ohne Warum?“
Konstantin Wecker: Es klingt geheimnisvoll. Es stammt aus der christlichen Mystik. Meister Eckhart hat das Wort geprägt: Sunder warumbe ist mittelhochdeutsch und heißt wörtlich übersetzt: „Ohne Warum“. Das ist ein Ausdruck mystischen Denkens: Etwas tun ohne Warum: Also ohne Berechnung. Ohne Grund. Ich bin für den Moment des „Ohne Warum“ authentisch. 350 Jahre später hat der mystische Dichter Angelus Silesius auf dem Hintergrund der Idee von Meister Eckhart das folgende Gedicht geschrieben:
Die Ros´ ist ohn warum
sie blühet weil sie blühet
Sie acht’ nicht ihrer selbst
fragt nicht, ob man sie siehet.
Dieses Gedicht las ich als Vierzehnjähriger. Ein halbes Jahrhundert später habe ich mich wieder daran erinnert.

Die Theologin und Poetin Dorothee Sölle spricht in ihrem Buch „Mystik und Widerstand“ davon, dass, wo Gott liebt und geliebt wird, sich Gerechtigkeit und Friede küssen. Es geht in der Mystik um die Wirklichkeit einer befreiten Welt. Und die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortete sie mit diesem Gedicht von Angelus Silesius. Ihr Wissen über die Mystik, auch über das Warum, hat sie zum Beispiel aus der Lektüre der Werke Mechthilds von Magdeburg: Mystik und Widerstand sind die zwei Seiten einer Medaille.
Meister Eckhart sagte einmal, auch das wäre eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: Fragte man das Leben, warum es lebt, es würde sagen: Ich lebe darum, dass ich lebe. Ich halte das für ein wunderschönes Wort – und die Rose des Angelus für ein wunderschönes Symbol in einer Zeit, in der wir permanent, bei allem, was wir in dieser Gesellschaft tun, nach einem ökonomischen Nutzen fragen.

Der Flüchtling ist nicht als Mensch wichtig, sondern ob er jemand ist, der für unsere Wirtschaft von Nutzen sein kann.
Das ist doch unsäglich. Aber Angelus oder die Mystikerinnen und Mystiker vor ihm tun etwas, weil man es tun muss, ohne zu fragen, ob es einen Gewinn bringt, ob man damit gefällt. Die Rose blüht, ob wir sie ansehen oder nicht. Das ist ganz egal. Entscheidend ist, dass sie blüht. Das ist eine radikal andere Sicht. Insofern stimmt es: Sich auf die Mystik einlassen, bedeutet, Widerstand zu leisten. Man fragt nicht mehr, warum man etwas macht. Ich weiß ja auch nicht, warum ich so einen Drang zum Singen habe. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich einen größeren Drang zum Singen habe als andere. Das fällt mir auch auf. Aber ich habe das nie in Frage gestellt. Das ist eben so. Und das kann man natürlich auch im politischen Engagement ausleben. Auch da gibt es Dinge, die man tun muss, weil es einen dazu drängt. Man kann es auch so sagen: Mystik lehrt mich das Staunen über die Schönheit und das Erschrecken über die Ungerechtigkeit in der Welt. Aus diesem Erschrecken und dem Staunenwollen erwächst der Wille zum Widerstand.
Sie beginnen die CD mit dem zitierten Lied „Ich habe einen Traum“. Will sagen, Sie beginnen, so scheint es mir, mit dem Soundtrack dieser Tage. Aber sie schrieben es doch vor etlicher Zeit? Mithin ist es eine Prophetie in Lied gewesen?
In gewisser Weise ja. Ich schrieb es tatsächlich vor dem Erleben dieser Tage. Freilich kam, was wir erleben, ja nicht überraschend.

Es ist von Martin Luther-Kings „I have a dream“ inspiriert, einem Schlüsseltext der amerikanischen Bürgerbewegung. Sehen Sie den Text Ihres Liedes ebenso? Und, wenn ich an das Deutschland im fünfundzwanzigsten Jahr der Einheit denke, und sehe oder lese von der Verzagtheit angesichts der Fremden, frage ich mich: Sind wir das? Sind wir ein verzagtes Volk?
Zur ersten Frage: Ja, „Ich habe einen Traum“ ist für mich immer schon ein Schlüsseltext gewesen. Weil ich ein Verfechter der Utopie bin, weshalb ich mich auch als Frühromantiker betrachte. Helmut Schmidt sagte: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“. Ich meine, wer keine hat, sollte schleunigst einen Arzt aufsuchen. Wir brauchen Visionen, Träume, um uns zu orientieren. Ich meine natürlich den Traum, die Vision als Antrieb, etwas in die Tat umzusetzen. Ohne Visionen werden wir zu Menschen, die unter allen Umständen am Althergebrachten hängen bleiben, die um jeden Preis bewahren wollen, die sich weigern, Dinge einfach einmal weiter zu denken. Politiker wie der bayrische Ministerpräsident mit seiner kreuzgefährlichen „Notwehr“-Debatte. Über „Notwehr als Recht“ hat Hitler schon im 15. Kapitel des 2. Bandes von „Mein Kampf“ geschrieben. Herr Seehofer sollte darauf achten, in welcher Nachbarschaft er da sprachlich verkehrt. Und dann diese unsägliche Verlogenheit der Politiker, die genau wissen, dass sie seit zwanzig Jahren eine Politik gemacht haben, die diese Flüchtlinge erst produziert hat. Da wären doch Träume, Visionen wichtig! Aber nun kommt das Schöne, das Gute. Auch hier in Deutschland ist das wunderbar zu sehen, in Österreich habe ich das auch erlebt: Es gibt eine unglaubliche Woge der Hilfsbereitschaft: Menschen, die einfach ihre Gefühle sprechen lassen. Das ist schon atemberaubend. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Meine Frage nach dem verzagten Volk rührt daher, dass ich beobachte, dass Medien und Politik in trauter Gemeinsamkeit eher für Verunsicherung sorgen.
Man will das Volk verzagt machen. Sie haben wirklich recht: Medien und Politik versuchen eine Verunsicherung des Volkes, um eine Spaltung hervorzurufen. Ich glaube, wenn man diesen Vorgang einmal, zugegeben sehr vereinfacht, beschreiben will, geht es darum, den unsäglichen Schaden einer neoliberalen Politik, die versagt hat, zu kaschieren. Für 99 Prozent der Menschen auf dieser Erde hat sie versagt. Neoliberale Politik lohnt sich für 1 Prozent der Menschen auf unserem Globus, der immer reicher wird. Darum habe ich auch diesen Song geschrieben: „Revolution“. Ich versuche, den Menschen wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass es einen Weg aus diesem Schaden gibt: Revolution. Bei dieser sozialen Ungerechtigkeit, die herrscht, 99 Prozent der Menschen besitzen gemeinsam so viel wie das eine Prozent, für das sich die neoliberale Politik lohnt, bedarf es einer Revolution. Und Revolutionen kommen von links. Rechts kann nur Putsch.

Ich habe Wecker oft gehört, dass er sich über Missstände empört hat. Diese Empörung erwuchs aus einem verletzten Gerechtigkeitsgefühl. Diesmal habe ich auf Ihrer Platte – ich werde sie mir noch auf Vinyl kaufen, weil es eine Platte ist, die man auf Vinyl hören muss, der Kostbarkeit wegen – einen anderen Ton gehört, den ich so von Wecker nicht kannte: Eine existenzielle Erschrockenheit.
Ja, das stimmt. Ich hatte nie damit gerechnet, dass wir an einem Punkt anlangen könnten, an dem sich die Gesellschaft in solcher Weise zu spalten droht. Das ist meine Angst, aus der mein Engagement erwächst. Nun könnte man im Alter von 68 Jahren sagen, über diese Probleme nachzudenken müsse man jetzt den Jüngeren überlassen. 2012, ja noch 2013 erlebte ich Dieter Hildebrandt auf der Bühne, wie er immer böser, kräftiger, heftiger wurde. Georg Schramm ebenso. Immer wieder brachen sie angesichts der gesellschaftlichen Verwüstungen, die der Neoliberalismus anrichtete, aus ihren Rollen heraus. Diese Erschrockenheit greift bei den sensibleren Menschen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, grassierend um sich. Ich schrieb in den neunziger Jahren das Lied „Ich habe Angst“, das ich Petra Kelly widmete, weil in ihm die Zeile „mit dem Herzen denken“ vorkam. Ich habe das jetzt wieder im Programm: „Ich hab Angst um die Spinner, um die Träumer und um die seitlich Umgeknickten …“ Das Lied entstand anlässlich der rassistischen Übergriffe in Mölln oder in Dessau, dem Tod von Amadeo. Wir hatten diese Situation bereits einmal, dass die Rassisten einen Aufstand wagten. Jetzt erleben wir das wieder. Allerdings weicht allmählich meine Erschrockenheit, wenn ich sehe, wie viele Menschen im Gegensatz dazu mitfühlend und hilfsbereit sind und diesmal klüger als die Politik erscheinen.

Im Lied „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ singen Sie: „Tief im Innern war etwas verborgen, was sich nicht betäuben und verstecken lässt. Eine Hoffnung auf ein unerhörtes Morgen, auf ein unerschlossenes Paradies.“ Lässt sich dieses Paradies beschreiben?
Ja. Sie kennen doch auch Momente in Ihrem Leben, in denen alles zu stimmen scheint. Und dieses Schöne zu erfahren hat nichts zu tun mit Geld und Gier und mit Besitz. Diese Momente sind unabhängig von äußeren „Glücksbringern“. Die Mystiker bezeichnen solche Momente als den „Ort der Glückseligkeit“. Ich wurde ja vor zehn Jahren, als ich versuchte, die Spiritualität ins Gespräch zu bringen, gnadenlos verprügelt. Aber ich bin der Überzeugung, dass es kein Gegensatz ist, ein spiritueller Mensch und zugleich ein politisch engagierter Mensch zu sein. Für mich gehört sogar beides zusammen: Ich glaube, dass ein von Herzen kommendes politisches Engagement ohne Spiritualität überhaupt nicht geht.

Auf Ihrem Album singen Sie ein Duett mit Cynthia Nickschas, die auch in etlichen anderen Ihrer Lieder zu hören ist. Wie sind Sie auf diese Sängerin aufmerksam geworden?
Ich habe sie in Köln als Straßensängerin kennen gelernt. Sie hat mich von dem Moment an fasziniert, als sie mir auf der Gitarre etwas vorspielte. Cynthia ist Musik pur und hat eine atemberaubende Stimme. Sie kann aus dem Stand die zweite Stimme singen, weil sie von Kindheit an Musik macht. Sie hat zudem sehr schöne eigene Lieder. Und sie ist eine Musikerin meines Labels. Ich gründete dieses eigene Label „Sturm und Klang“ aus meiner Erfahrung heraus, dass ich ohne meine älteren Freunde wie Dieter Hildebrandt und Hans-Dieter Hüsch nicht annähernd das erreicht hätte, was ich eben erreichen konnte. So wie diese älteren Kollegen mir auf die Sprünge geholfen haben, möchte ich jüngeren Kollegen diese Chance mit meinem Label geben: Cynthia Nickschas, Roger Stein, Prinz Chaos II. und der Tiroler Liedermacher Dominik Plangger.

Wer schafft es auf Ihr Label?
Die Künstler müssen mir textlich und musikalisch wahnsinnig gut gefallen und sie müssen bereit sein zur Revolution. Übrigens begann bei diesem Album „Ohne Warum“ alles mit dem Lied „Revolution“. Und da habe ich mir überlegt: Wenn ich als Achtundsechzigjähriger die Revolution ausrufe, wäre das vielleicht ganz gut, wenn da ein junger Mensch dabei wäre. So ist die Idee entstanden, dieses Lied als Duett mit Cynthia zu singen. Und dann war sie im Studio, hat die anderen Lieder mitgesungen. Sie kennt meine Lieder ja auch schon von Jugend an. Dann erst entstand die Idee, gemeinsam auf Tour zu gehen. So habe ich jetzt, zusammen mit der Cellistin, die seit eineinhalb Jahren dazu gehört, zwei Frauen in der Band. Das tut uns musikalisch ausgesprochen gut, finde ich.

Apropos Revolution. Die Linke hat da ja immer einen Erklärungsbedarf. Die bisherigen Experimente sind im Ansatz gescheitert. Jetzt scheint man zu warten, bis ein neues Konzept entstanden ist. Der Schweizer Menschenrechtler Jean Ziegler hat vor kurzem gesagt, dass die Menschen, die 1789 die Bastille stürmten, sich auch kein Konzept vorher ausgedacht hatten. Hätte da ein Reporter gestanden und sie danach gefragt, hätten sie keine Antwort geben können. Es war dran zu handeln. Das taten sie. Die Idee, mit der wir heute die Bürgerliche Revolution von 1789 verbinden, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, entstand später. Die Idee eines bürgerlichen Staates entstand noch später. Muss man nicht erst handeln, wenn man nicht auf Dauer gelähmt werden will?
So ist es. Der Gregor Gysi hat mir neulich erzählt, es sei so gewesen, dass immer, wenn der demokratische Sozialismus in Ansätzen entstand, er auch gleich wieder zerstört wurde. Es gibt kein Modellbeispiel für demokratischen Sozialismus. Wir haben diese Form von Zerstörung im Ansatz doch gerade in Griechenland erlebt, haben es erlebt, wie man mit der linksdemokratischen, mit der gewählten Regierung des Landes umgesprungen ist. Wir haben das seinerzeit in Chile, in Nicaragua erlebt. Meine Vorstellung ist eine andere: Wir müssen weg von einem ideologischen Denkgebäude. Eine feste Ideologie bedarf am Ende eines Führers. Wir brauchen keine Führer mehr. Wir müssen uns vernetzen. Man darf nicht vergessen, dass allein in Brasilien 1,5 Millionen Menschen sich in privaten Initiativen verbünden, eigene Supermärkte aufbauen, praktisch miteinander arbeiten. Das gibt es inzwischen weltweit. Auch in Deutschland gibt es bereits etliche solcher Friedensdörfer. Lesen sie etwas davon in den Zeitungen? Hören Sie etwas davon im Radio? Sehen Sie etwas davon im Fernsehen? Keine Ideologie mehr, sondern Experimente des Zusammenlebens brauchen wir. Wenn wir eine Revolution machen, sind wir wie Kinder. Wir werden innerhalb dieser Arbeit miteinander daran erwachsen werden.

Was mir zum 25. Jahrestag der Einheit auffiel: Vom November 1989 bis zum 3. Oktober 1990 hatten wir in der DDR ja eine wunderbare Freiheit. Rückblickend war das die schönste Zeit meines Lebens. In diesem Jahr bemächtigten sich die Medien dieser Zeit und ich las davon, wie unendlich chaotisch diese Zeit gewesen sei, wie schlimm. Dabei war es diese Zeit, in der ich mich einmal als Souverän fühlte, in der ich eine unendliche Freiheit spürte, die am 3. Oktober rechtsstaatlich wieder kassiert wurde.
Ich habe diese Zeit bei Euch erlebt. Ich denke, dieses Niederschreiben dieser fast anarchistischen Zeit ist nicht unabsichtlich. Ich bekam damals mit, wie meine Freunde 1989 so voller Hoffnung waren auf einen demokratischen Sozialismus, nicht auf einen Vollanschluss. Und wie schnell, mit den „Helmut! Helmut!“-Rufen diese Hoffnung versandete. Wobei ich heute der Meinung bin, dass diese Rufe gesteuert waren. Aber ich will noch einmal auf „Ohne Warum“ zu sprechen kommen: Mich hat die Poesie zu all dem geführt, was ich geworden bin. Die Poesie als eine rationale Kunst – im Gegensatz zur Musik – deren Worte aber eine nicht eindeutige Bedeutung haben, die ich mir auf dem Hintergrund meiner Lebenserfahrung erst erschließen muss. Das Großartige an der Poesie ist, dass sie mit den Mitteln der Ratio, der Sprache, arbeitet und zugleich über sich hinausweist. Und es war auch die Poesie, die mir den Blick nach Innen geöffnet hat. Ich glaube, dass alles ist auch in dieses Album geflossen.