Kein Tag ohne Debatte über Flüchtlinge. Von überallher hört man Er-klärungen, Beteuerungen oder Klagen. Alles ist wie ein Blick in eine Glaskugel und kaum jemand redet darüber, dass wer A sagt, auch B sagen muss.
Die riesige Hilfsbereitschaft der Deutschen ist ein Beleg für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Einstellungswandel.
Aus der Verantwortung zur eigenen Geschichte haben wir unseren Generationen, die nach Ende des 2. Weltkrieges aufwuchsen, vermittelt, dass wir keine völkerverachtenden Gedanken zulassen, dass wir in Frieden und Eintracht, in gegenseitigem Respekt und in Balance leben wollen und dass ein konfliktfreies Leben in der Völkergemeinschaft nur unter solchen Aspekten möglich ist. Diese Werte scheinen über mehrere Generationen tief verinnerlicht zu sein. 70 Jahre Leben in Frieden und unter prosperierender Entwicklung verdrängt vielleicht die Sensibilität in der Gesellschaft für Konfliktpotenziale. Wer ausschließlich unter der Erfahrung aufwuchs, dass sich rundherum stets alles richten und ordnen würde, gewinnt kaum eine Vorstellung davon, dass es möglicherweise auch anders laufen könnte. Das ist wie der Blick in die Glaskugel.
Wir haben unseren Kindern Toleranz, Verständnis und Weltoffenheit vermittelt, dass die Hoffnung für ein friedlicheres Zusammenleben der Völker möglich ist. Blicken wir auf einige Regionen der Erde, müssen wir eingestehen, dass die kriegerischen Brandherde nicht erlöschen. Sicher tragen wir Deutschen für manche Auseinandersetzung Mitverantwortung – selbst dann, wenn sich keiner von uns mit einer Waffe eingemischt hatte. Wie jedoch wollen wir uns als Nation begreifen, wenn wir unter grenzenlosen Toleranzvorstellungen Traditionen und Identifikationen aufgeben? Integration in einer Quantität, wie sie jetzt zu leisten sein soll, wird niemals in nur eine Richtung möglich sein. Man muss offen erklären, dass es nicht einfach funktionieren wird, dass sich Menschen mit völlig anderen kulturellen Prägungen hundertausendfach nur an uns anpassen werden. Wir werden selbst Bereitschaft aufbringen müssen, uns anzupassen. Doch niemand erklärt wie. Wer A sagt, muss auch B sagen. Wenn sich Gesellschaften öffnen, rücken in ihr Gruppen unter gleichen Interessen zusammen. Darüber muss geredet werden. Die Polarisierung in Ablehnung und Zustimmen geht weiter. Im Osten Deutschlands mag das Gespür für eine Wertetransformation ausgeprägter sein als im Westteil des Landes. Hier existiert ein hoher Bevölkerungsanteil, der mit der Wiedervereinigung schon einmal einen gewaltigen Wandel bewältigen musste. Deshalb mag es sein, dass Angst vor weiteren einschneidenden Veränderungen schneller anschlägt als anderswo. Im Westen hat nach dem Niedergang der Nazidiktatur niemand eine so tiefgreifende, gesellschaftliche Erfahrung machen müssen.
Es ist wundervoll anzusehen, wenn im ganzen Land Menschlichkeit und Solidarität sichtbar werden, wenn überall uneigennützig angepackt wird. Aus Magdeburger Erfahrung heraus will man sich gern an die massenhafte Unterstützung während der letzten großen Flut im Juni 2013 erinnern. Leider hinkt der Vergleich. Denn die Pegel sanken von allein, als der Scheitelpunkt an der Stadt vorrüber war. Der Zustrom von Menschen versiegt vorerst nicht. Das muss jedem bewusst sein.
Wohin steuert Deutschland? Kein Kreis – und ist er noch so klein – kommt derzeit um eine Diskussion über die Flüchtlingssituation herum. Es wird über Ursachen und Folgen gestritten, über Hilfe oder nicht sowie über Entscheidungen oder Versagen von Regierungen. Das Thema klebt an allen und jedem. Eine derart intensive, gesellschaftliche Debatte haben die Deutschen seit Jahrzehnten nicht mehr geführt. Der Disput muss geführt werden. Bewegungen dieser Tragweite und ihrer Folgen werden das Leben im Land verändern. Ein unkalkulierbarer Fortgang vertieft Gräben, schürt Zweifel und Angst und wird damit zum Ausgangspunkt für Konflikte. Was von welcher Seite oder aus welcher Überzeugung heraus auch immer gesagt und geschrieben wird, ist wie ein Blick in eine Glaskugel. Aber jedes Argument findet sein Kontra. Jedes Wollen einen Widerstand. Wer A sagt, muss auch B sagen.
Was Deutschland wirklich leisten kann, dazu kursieren reine Spekulationen. Die tatsächliche Leis-tungsfähigkeit wird erst in Zukunft sichtbar. Wir hören wohlwollende Meinungen über den Glücksfall von Zuwanderung, die helfen könnte der demografischen Entwicklung und dem spürbaren Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Derzeit lesen wir, dass die deutsche Bevölkerung – entgegen allen demografischen Prognosen – wächst. Gleichsam müssen wir konstatieren, dass wir aktuell rund 2,8 Millionen Arbeitssuchende in Deutschland haben. Außerdem erhalten etwa 4,4 Millionen Menschen im erwerbstätigen Alter Leistungen zur Grundsicherung (Hartz IV). Wenn also Zuwanderer eine Alternative zum Personalmangel sein sollen, muss man auch bekennen, dass wir die eigenen Betroffenen in den Sicherungssytemen als Potenzial für den Arbeitsmarkt abgeschrieben haben. Unser engmaschiges Sozial-, Qualifizierungs- und Bildungssystem ist nicht in der Lage, einen großen Teil hierzulande aufgewachsener Bürger in die Arbeitswelt zu integrieren. Jetzt soll das mit Menschen gelingen, die oft wesentlich höhere Hürden für Sprache und Kultur mitbringen. Beispiele reibungsloser Eingliederung wird es zweifelsfrei geben. Das Problem ist eher, dass gelingende Integration von Zuwanderern oft pauschal unterstellt wird.
Ende August verkündete VW-Personalvorstand Prof. Horst Neumann, dass von den heute gut 270.000 Beschäftigten des Automobilkonzerns in Deutschland die Mehrzahl an Taktstraßen arbeiten würde. Und er sagte kompromisslos: Diese Jobs fallen in Zukunft weg. Vernetzte und hochkomplexe, technische Systeme, die unter dem Schlagwort Industrie 4.0 begriffen werden, ersetzen künftig diese Arbeitsplätze. VW ist nur ein großes deutsches Unternehmen im Konzert aller Industrieproduktionen und wird in dieser Entwicklung sicher keine Ausnahme sein. Für Maschinen werden Stundenkosten in Höhe von 4 bis 6 Euro berechnet. Der betriebswirtschaftliche Vorteil liegt auf der Hand. Wer braucht dann noch mehr Fachkräfte? Die Prognose über aussterbende Industriearbeitsplätze mag wie eine utopische Idee klingen, ist sie aber nicht. Der technische Wandel hält längst an den Fließbändern Einzug.
Ein weiteres Diskussionsargument sind beschwichtigende Stimmen, die darauf verweisen, dass es in der Menschheitsgeschichte immer große Völkerwanderungen gegeben hätte. Das stimmt. Dieser Hinweis unterschlägt allerdings, dass bisher jede Völkerwanderung mit gewaltsamen und kriegerischen Auseinandersetzungen einherging. Keine war konfliktfrei. Das beweist die Geschichte auch. Als Beispiel gelungener historischer Zuwanderung wird gern mit dem Finger auf die Vereinigten Staaten von Amerika gezeigt. Es darf bei diesem Hinweis nicht vergessen werden, dass sich die Einwanderung in die USA über mehrere Hundert Jahre hinzog. Das Staats- und Wertegebilde auf dem nordamerikanischen Kontinent vollzog sich in einem langen, sich selbst organisierenden Prozess mit vielen inneren, auch gewalttätigen Reibungen zwischen manigfachen kulturellen Ethnien. In Europa soll sich ähnliches in nur wenigen Jahren realisieren lassen? Zweifel sind angebracht. Wer A sagt, muss auch B sagen.
Wichtiger als solche theoretisch historischen Vergleiche ist die Hinwendung zur Alltagspraxis. Da muss man auf jene Menschen schauen, die als Helfer staatlicher oder gemeinnütziger Organisationen wie THW, DRK, Caritas, Sozialstationen und anderen oder gar als Privatpersonen Hilfe bei der Flüchtlingsaufnahme und -versorgung leisten. Wie lange reicht die Kraft dieser Freiwilligen und Beauftragten? Fakt ist, dass kein noch so hohes Engagement unerschöpflich ist. Genauso wenig wie die räumlichen Kapazitäten nicht unendlich sind. Aus welchem Himmel werden die späteren Wohnungen für abertausende Bleibeberechtigte fallen? Wer baut sie und wer zahlt die Zeche? Wer kann darüber Auskunft erteilen? Man könnte vielleicht auf die zahlreichen, verweisten Kleingärten in Magdeburg schauen und dort jede Menge Platz finden. Sicher sogar Lebensraum für Zuwanderer. Die Kleingartenverbände beklagen seit Jahren die wachsende Zahl brachliegender Parzellen. Glaubt jemand daran, dass Menschen aus einem anderen Teil der Welt die Regeln der Kleingärtner verstehen könnten, die vorschreiben, wann was wie gepflegt und beackert werden darf?
Die Sicherheitsbehörden, allen voran die Polizei, dürfen in diesem weiten Themenfeld nicht vergessen werden. Landespolizeien und Bundesbehörden sind mit dem Aufgabenaufwuchs schnell am Rande der Belastungsgrenze. Nicht auszudenken, wenn in dieser Zeit neben der Flüchtlingshilfe eine außergewöhnliche Krisensituation eintritt oder wegen eines Terroranschlags ein Katastrophenfall ausgerufen werden müsste. Kann die Polizei dem gewohnten Sicherheitsgefühl der Bürger bei allen Veränderungen gerecht werden?
Wer denkt an die psychischen und körperlichen Belastungen derer, die am Ende von Asylverfahren, die Abschiebung von Menschen leisten sollen? Im Alltag berührt diese Problematik kaum jemanden. Einem Außenstehenden ist es unmöglich, sich in Situationen solcher Mitarbeiter einfühlen zu können. Werden sie den Anforderungen auch gerecht, wenn die Zahl der Abschiebungen sprunghaft ansteigt? Bei allem theoretischen Wollen muss jeder bedenken, wie sich das Leben derer anfühlt, die mit Rückführungsaufgaben betraut und die täglich mit Leid und Gegenwehr konfrontiert sind. Einschätzung Außenstehender sind nur nebulöse Abstraktionen. Magdeburgs Oberbürgermeister Dr. Lutz Trümper kennt aus der praktischen Erfahrung kommunaler Asylzuständigkeit heraus plastische Beispiele, die verdeutlichen, wie verwundend Abschiebungssituationen für alle Seiten sein können. Einerseits für die von Abschiebung Betroffenen als auch bei jenen, die diese durchführen müssen. An vielen Stellen stoßen Verwaltungen jetzt schon an Grenzen, weil Abgeschobene plötzlich wieder auftauchen, weil abgelehnte Asylbewerber Entscheidungen nicht akzeptieren und dagegen juristisch oder öffentlich vorgehen. Die anwaltliche Vertretung ist aus Steuertöpfen finanziert. Völlig verständlich kämpft jeder Mensch für seine Interessen, nutzt dabei die Möglichkeiten des Rechtsstaats und stellt damit dessen Netz auf die Zerreißprobe. Beamte werden bei der Feststellung der persönlichen Angaben über Herkunft und andere Belange belogen und getäuscht. Das gehört auch zum Asylalltag in Deutschland. Besitzen wir die Möglichkeiten, alle Angaben auf Wahrhaftigkeit zu prüfen? Wie viele Juristen an Gerichten sowie freiberufliche werden in den nächsten Monaten und Jahren mit Einsprüchen, Klagen und Entscheidungsauslegungen in Asylverfahren beschäftigt sein? Sehen wir all diese Auswirkung auf unser Rechtssystem und die darin wirkenden Menschen? Alles mag wie der Blick in eine Glaskugeln sein. Doch wer A sagt, muss auch B sagen.
Medienberichterstattung muss auf mögliche Darstellungsverzerrungen hin kritisch betrachtet werden. Schreckensbilder von Kriegsfolgen, Elend und Gewalt aus den Krisengebieten der Erde berühren jeden. Unter einer andauernden Bilder- und Berichtswelle steigen Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Einflüsse auf die eigene Wahrnehmung und Deutung dürfen nicht unterschätzt werden. Gern verweisen wir auf unseren deutschen Wohlstand und sig-nalisieren Teilungsbereitschaft. Das ist gut und vonnöten. Doch wie teilungsbereit ist ein jeder selbst, wenn plötzlich und unmittelbar der eigene Wohnraum, der Alltag und das persönliche Einkommen berührt werden? Wie teilungsbereit sind vor allem jene, die es von anderen einfordern, beispielsweise Politiker? Mit welchem Vorbild gehen sie im deutschen Staat voran, indem die Anzahl Sozialschwacher zunimmt?
Wer Krieg nicht erlitten hat, kann niemals empfinden, was Menschen unter so einer Katastrophe fühlen. Die Empörung über den ungarischen Kurs resoluter Grenzabschottung mag mit dem Willen, Solidarität zu zeigen, schlecht in Eintracht zu bringen sein. Doch warum verweigern sich Tausende vor Krieg flüchtende Menschen auf dem sicheren ungarisch-europäischen Boden einer Registrierung für ihr Asylanliegen? Selbstverständlich haben wir die Strahlkraft unseres deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems mit Stolz in die Welt getragen und überall hergezeigt. Ein Jeder lieferte mit Urlaubsreisen in ferne Länder einen Beitrag dazu. Jetzt wird darüber geklagt, dass Deutschand auf Verfolgte und Fliehende anziehender wirkt als andere europäische Staaten. Es muss die Frage erlaubt sein, ob es bei allen Flüchtlingen und Migranten wirklich um Kriegsflucht geht?
Es hilft ebenso wenig, wenn sich in Netzwerken wie Facebook oder auf zahlreichen neueren Medienkanälen Bilderbeispiel an Beispiel reiht, wie von Flüchtlingen Aggressionen und Forderungen ausgehen. Jede sichtbar werdende Zuspitzung verdeckt die eigentlich große Menschenmenge, die Hilfe dringend nötig hat.
Man muss im Zusammenhang mit Zuwanderern einen Blick auf die Entstehung von Regeln und Gesetzen werfen. Normen sind Ausdruck eines gewachsenen, gesellschaftlichen Konsens. Die praktischen Bedingungen, unter denen Menschen am besten zusammenleben, entscheiden über rechtliche Vorschriften. Gesetze sind Erfahrungsergebnisse über angemessene Praktikabilität. Regeln entstehen nie einseitig von oben verordnet, sondern vor allem aus dem Einfluss des Alltagslebens. Wenn sich das Zusammenleben aufgrund vielseitiger kultureller Einstellungen verändert, wird manche Regel nicht mehr passen. Eine wachsende Anzahl an Zuwanderern wird Auswirkungen auf alle Lebensbereiche haben. Unser bis in den letzten Winkel verwaltungstrechnisch geregeltes Leben soll plötzlich Flexibilität erhalten? Schon an ganz normalen Amtsvorgängen scheitert so mancher deutsche Bürger und Verwaltungen können sich gar innerhalb ihrer Vorschriften regelrecht selbst in Ketten legen. Das soll jetzt anders sein? Kaum zu glauben. Wer A sagt, muss auch B sagen.
Manch kleine Nachricht geht im Chor großer Aufregung unter. Vor gut zwei Wochen meldete die FAZ, dass die Bundeswehr personell aufgestockt werden soll. Dies kann als Anhaltspunkt dafür gewertet werden, dass die Regierung eine Verschärfung von Konflikten einkalkuliert und für Wehrhaftigkeit sorgen will. Das Bundesverfassungsgericht urteilte in diesen Tagen, dass die Bundesregierung bei Gefahr im Verzuge einen Einsatz der Armee anordnen könne, ohne eine Zustimmung des Parlaments haben zu müssen. Daraus ist auch ablesbar, dass es keine unbegrenzte Toleranz gegenüber allen Interessen, die von außen auf uns zuströmen, geben wird. Worauf steuern wir zu? Keiner will ausufernde Gewalt. Und doch muss deutlich gemacht werden, dass auf A eben B folgt.
Die meisten Beschreibungen über die Wirkungen von Flüchtlingsbewegungen bleiben in vereinfachten Darstellungen hängen, sowohl in Medien als auch in privaten Diskussionen. Das wirkliche Ausmaß lässt sich kaum begreifen. Wir stecken offensichtlich im Blick in eine Glaskugel fest. Wenn Politiker beispielhaft vorangehen würden und sich selbst Flüchtlinge ins Haus holten – das hätte Vorbildwirkung. Aber Orientierung scheint Mangelware. Das bleibt nicht unbemerkt. Deshalb erheben sich zunehmend Klagen und Protest. Unzufriedenheit und Ohnmacht nähren sich an Ungewissheit und Zweifeln. Wir wollen helfen, so viel steht fest. Nur über den Preis wird wenig geredet. Will ihn keiner kennen? Wir sind doch sonst Weltmeister in Prognosen, Deutung von Zahlen sowie theoretischen Betrachtungen. Wie gelähmt schaut man auf die Praxis und vergisst, wer A sagt, muss auch B sagen können.
Thomas Wischnewski