Wer bewertet die Maßstäbe?

thomas_editorialObwohl es in den vergangenen Jahren teilweise rückläufige Krankenstände bei der erwerbstätigen Bevölkerung gibt, wächst ein Bereich fortlaufend: psychische Erkrankungen. Beim Arbeitsunfähigkeitsgeschehen kletterten die Krankschreibungen in den vergangenen 39 Jahren von 2 auf 14,7 Prozent. Die durch psychische Krankheiten ausgelösten Krankheitstage haben sich in diesem Zeitraum verfünffacht. Im Jahr 2012 wurden bundesweit 60 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen registriert (Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin). Im Prinzip müsste man schlussfolgern, pathologisch seelische Defekte sind der Schnupfen von heute, den irgendwann jeder bekommen kann.

Als mögliche Ursachen dieses gesellschaftlichen Phänomens rückt der Stress im Arbeitsalltag in den Mittelpunkt. Natürlich gäbe es außerdem eine größere Sensibilität für psychische Probleme. Bis vor 30 Jahren hat sich kaum jemand getraut, über psychische Leiden zu reden. Aus einer Entwicklung folgt jedoch stets eine andere. Die Zunahme registrierter psychischer Diagnosen lässt die Zahl der Therapeuten wachsen. Die wiederum verfügen heute über einen weit ausdifferenzierte Analyse psychischer Krankheitsbilder. Abhängigkeit, Angst- und Zwangsstörung, Borderline, Demenz, Depression, Manie, Schizophrenie sind einige Oberbegriffe, die für einen ganzen Komplex geistiger Beeinträchtigungen stehen können. Stellen Sie sich mal vor, Sie fühlen sich von tiefer Unzufriedenheit getrieben, suchen einen Therapeuten auf, und der findet nichts. Das täte weder dem jeweils Betroffenen noch dem Psychotherapeuten gut. Keine Diagnose zu erhalten, heißt vielleicht keine Hilfe zu bekommen.

Um eines klar zu stellen: Ein psychischer Leidensweg kann schwerwiegende Folgen haben und in vielen Fällen ist damit nicht zu spaßen. Dennoch muss die Frage aufgeworfen werden, wer beurteilt Diagnosemaßstäbe und Gutachter? Ein unabhängiger Sachverstand außerhalb von Psychologie und Psychiatrie wird sich dies nicht anmaßen und von Experten mit Sicherheit auch nicht anerkannt. Das ist ein Dilemma.

Blickt man oberflächlich auf die Arbeitswelt, erhält man natürlich häufig den Eindruck, überall rangiert der Stress, Anforderungen steigen stetig, überall sollen weniger Mitarbeiter mehr schaffen. Diese Grobanalyse würden sicher viele unterstreichen. Und es sei hier nicht behauptet, es würde solche Tendenzen nicht geben. Zunächst: Unsere Psyche ist nicht nur am Arbeitsplatz unterwegs, sondern wir sind mit ihr täglich 24 Stunden unteilbar verbunden. Negative Einflüsse wesentlich aus der beruflichen Tätigkeit herauszuschälen, greift zu kurz. Wir haben unsere Lebensbedingungen an sich grundsätzlich verändert. Nennen wir das Phänomen Ereignisflut. Zum Alltag des modernen Individuums gehört die selbstverständlich gewordene Erreichbarkeit, nicht nur für den Job, sondern für jede private Botschaft. Man dürfte annehmen, dass das persönliche Erregungspotenzial mit gewachsenen Reizen enorm angestiegen ist. Wesentlich ist aber nicht nur die Summe äußerer Geschehen, die auf uns einströmen, sondern auch in welcher Weise wir diese beurteilen und verarbeiten. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Mit jeder wirksamen Veränderung im Leben ändert sich auch die Bewertung dazu. Beurteilungsmaßstäbe fußen auf verinnerlichte Selbstverständlichkeiten.

Bequemlichkeit ist einerseits ein ganz natürlicher Ausdruck von Entspannung, andererseits jedoch auch ein erlerntes Verhalten. Wer wenig gefördert und gefordert wurde, misst gestellte Anforderungen anders bzw. erlebt wesentlich schneller eine Belastungsgrenze. Möglicherweise hat sich die Qualität unserer Sensibilität, wie wir uns innerhalb von alltäglichen Lebensphasen begreifen, auch dadurch grundsätzlich gewandelt, dass wir Möglichkeiten von Bequemlichkeiten heute besser ausschöpfen können als Vorgenerationen. So etwas lässt sich natürlich schwerlich untersuchen, weil frühere Generationen als Untersuchungsgegenstand abhandengekommen sind. Man könnte manchmal geneigt sein, an einen Hypochonder zu denken. Je mehr Krankheiten existieren, umso eher entdecken wir solche bei uns selbst. Und je mehr Abweichungen von der Norm sehen können, umso eher neigen wir dazu uns als nicht normal zu begreifen. Häufig schenkt uns ein Name – und sei es der einer Krankheit – Gewissheit über eine Ursache, und das beruhigt ungemein. (tw)